4. Schliesslich eine Bemerkung zu den Termini «souverän» und «autonom», die in den Quellen bisweilen vermischt werden. Souveränität zerfällt in die beiden Aspekte «Souveränität gegen aussen» und «Souveränität gegen innen». 71Als einziger wäre hier letzterer von Belang, der sich in der Rechtssetzung, der Verwaltungsausübung und der Justiz manifestiert. Der Einfachheit halber (und weil der Begriff der Gemeindeautonomie im 20. Jahrhundert den der Gemeindesouveränität offenbar verdrängt) ziehe ich den Autonomiebegriff vor.
1.3 Zugänge zur Kultur der Politik
Die bisher skizzierten Konturen einer Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden verlaufen entlang der Beschreibung von Selbstbildern, Werten, Haltungen, Vorstellungen, Wahrheiten und dergleichen mehr. Wenn danach gefragt werden soll, wie diese verschiedenen Wirklichkeitsentwürfe entstanden sind – wie und warum also, mit anderen Worten, diese Abgrenzungsgeschichte innerhalb der Bündner Gemeinden möglich wurde –, impliziert dies eine grundlegende Einsicht, wie sie von allen Strömungen der Kulturgeschichte geteilt wird: Die soziale Wirklichkeit ist etwas, das immer historisch hervorgebracht wird, d.h. nicht a priori vorgegeben oder «schon da» ist. 72Das Schlüsselkonzept für diesen Konstruktionsprozess sämtlicher Bereiche des historischen Lebens ist ein Kulturbegriff, wie er seit den 1980er-Jahren in die Geschichtswissenschaft eingedrungen ist. 73Kultur ist in diesem Verständnis
fundamental, so umfassend wie die Sprache, die auch die erste Form von Kultur ist und das Modell für Kultur als ein System von Zeichen, ein symbolisches System. Im Netz dieser Zeichen richten wir unsere Welt ein, versehen wir mit Bedeutung, was um uns ist und setzen wir auch uns selbst in Beziehung mit allem anderen – ja, versehen uns selbst mit Bedeutung. 74
Das kritische Nachdenken über den Menschen als «symbolerzeugendes und symboldeutendes Wesen» 75findet sich bereits bei einem der berühmtesten Gäste Graubündens der Belle Epoque, bei Friedrich Nietzsche. In Sils i.E./Segl führte er nach 1881 das Nachdenken über die Entstehung von Werten weiter, das er bereits 1872 in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne begonnen hatte. 76Darin hatte er zum ersten Mal die Frage nach der Genealogie des bürgerlichen «Begriffshimmels» gestellt, für Nietzsche «jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet». 77Er forderte eine Dekonstruktion dieses von Menschen geschaffenen «Wertehimmels». 78Dazu müsse man darstellen, «wie man auf Erden Ideale fabrizirt». 79
Von diesem Wirklichkeitsverständnis ausgehend, hat eine Kulturgeschichte der Politik «hergebrachtes politisches Handeln und politische Institutionen vor Augen und möchte diese mit kulturhistorischen Fragen in neuem Licht erscheinen lassen». 80Deshalb fragt sie «nach der Herstellung und den Funktionsweisen politischen Handelns und politischer Strukturen». 81Eine Kulturgeschichte der Politik darf sich dabei «nicht als die Untersuchung eines Gegenstandsbereichs verstehen, sondern als eine spezifische Perspektive auf jede Art von Politik». 82Schliesslich ist Politik, um mit Roger Sabloniers Untersuchung des spätmittelalterlichen Rätiens zu sprechen, «nicht nur eine Sache von Organisationen, Institutionen, Recht und Gewalt, sondern ebenso sehr von sozialen Beziehungen, Vorstellungen, Kommunkationsweisen und Handeln». 83
Mit dem Anspruch einer Kulturgeschichte der Politik taucht die Frage nach politischer Kultur oder politischen Kulturen auf. Zwei Aspekte dieses Begriffs sollen in dieser Untersuchung in den Blick rücken: Erstens meint politische Kultur bestimmte politische Deutungsmuster und ihre sozialmoralischen Milieus. 84In diesem Sinne sind es zwei politische Kulturen, die in einer interregionalen Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich werden lassen: die liberal-freisinnige und die katholisch-konservative. Trotz unterschiedlicher sozialmoralischer Milieus und politischer Handlungsformen wird zu zeigen sein, dass diese politischen Kulturen mindestens einen zentralen Code geteilt haben.
Zweitens ist zu klären, was alles zu diesen politischen Kulturen gehört, insofern «alles irgendwie politische Dimensionen hat». 85Mit einem Kulturbegriff, der potenziell immer politisch affiziert ist, wird gewiss die Schwäche eines umfassenden Begriffs von «politischer Kultur» deutlich, doch können zwei Relativierungen angebracht werden: Zum einen ist ein solch umfassender Begriff von politischer Kultur einer Beschränkung auf das «Kulturelle an der Politik», das heisst einer Beschränkung auf Demonstrationen, historische Festspiele und Denkmäler, vorzuziehen. 86Zum anderen muss auch eine Analyse von Vereinsstrukturen und dergleichen konkrete politische Dimensionen aufzeigen können. Nimmt man einen soziologischen Begriff von Politik «als eines kommunikativen Modus, dessen Codes auf die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen gerichtet sind» zum Ausgangspunkt, muss zumindest «die Integrationsfunktion, die jeder Politik auf die Dauer innewohnen muss», Gegenstand einer solchen Analyse sein. 87Eine Kulturgeschichte der Politik soll demnach «artifizielle Differenzierungen welcher Art auch immer, die Politisches von Nichtpolitischem zu trennen versuchen, hinter sich […] lassen» 88und sich in diesem potenziell weiten Feld «der Herstellung von Bedeutung, der Produktion von Sinn, der Prägung von Identitäten sowie der Konstruktion von Wirklichkeit durch Menschen der Vergangenheit» 89annehmen.
Bereits wurde erwähnt, dass die erste Form von Kultur die Sprache ist. Eine Möglichkeit, die Rolle der Sprache, oder allgemeiner, semiotischer Zeichensysteme für die Kultur einer Gesellschaft zu erfassen, geht vom Diskursbegriff des französischen Kulturwissenschaftlers Michel Foucault aus: 90Es sind Diskurse, die alle möglichen (abstrakten) «Gegenstände» oder Sachverhalte wie Bürgergemeinden, Gemeindeautonomie oder Wertungen wie «assimiliert» oder «bodenständig» (um nur einige zu nennen) erst hervorbringen und strukturieren. 91Diskurse sind «regelmässige, strukturierte und sich in einem systematischen Zusammenhang bewegende Praktiken und Redeweisen, die einen gewissen Grad der Institutionalisierung erreicht haben». 92Der Fokus liegt somit auf den Praktiken, die ihre Objekte «machen». 93Dies kann eine rechtswissenschaftliche Dissertation, eine Abstimmung während einer Bürgergemeindeversammlung oder der Ausschluss eines Niedergelassenen von einem wichtigen Amt in einem Verein sein. Eine Institution wie die Bürgergemeinde beispielsweise ist nichts anderes als das Korrelat der mit ihr verbundenen Praktiken: Wenn sich die Praktiken verändern, verändert sich der Inhalt beziehungsweise die Funktion der Bürgergemeinden. 94Um einen äusserst erfolgreichen Versuch, solche Bedeutungen festzulegen, handelt es sich beispielsweise beim Begriff des Staats. Er «existiert nur, indem über ihn gesprochen wird. Und doch wird er behandelt als existiere er in Form einer Wesenheit». 95
Ich möchte diese grundlegenden Überlegungen abschliessend in fünf Punkten präzisieren.
1. Diskurse haben einen materiellen wie produktiven Charakter. 96Deshalb umfasst eine «diskursive Praxis» ein ganzes Ensemble mit Institutionen, Regelungen, autoritativen Sprechern usw. 97Zum Diskurs gehören die damit «verknüpften Praktiken», die genauso für die Konstituierung ihres Gegenstandes relevant sind. 98
2. Wenn man Bürgergemeinden oder die Vorstellung von «Bodenständigkeit» als Ergebnis von Diskursen fasst, geht es «nicht um die abstruse Frage, ob es noch etwas anderes als Texte gebe, sondern darum, wie die nichtsprachlichen Dinge ihre Bedeutung erlangen». 99Bürgergemeinden sind allein schon deshalb real, weil sie durch ihre Beschlüsse sehr reale Wirkungen zeitigen können. Eine Kulturgeschichte der Politik schliesst zudem wirtschaftliche oder soziale Gegebenheiten als die «harten» Bedingungen menschlicher Existenz durchaus mit ein. Auch hier lautet die Frage nicht, ob sie existieren. Entscheidend ist, mit welcher Bedeutung beispielsweise wirtschaftliche Not oder ein Erdbeben ausgestattet werden und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. 100
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