Auffallend ist die Rede von der «heiligen Pflicht». Drei Jahre nachdem der Ludwigsburger David Friedrich Strauss seinen Bestseller Der alte und der neue Glaube veröffentlicht hatte, fand man im politischen Diskurs Graubündens ein explizites Bekenntnis zu einem Religionssubstitut. Die Überhöhung des «Bürgersinns» als «heilige Pflicht» sollte das neue gesellschaftliche Moralsystem legitimieren. Damit entstanden im bürgerlichen Milieu Churs sakralisierte «letzte Werte» wie das Ideal einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft, in der die kommunalen Rechte mit allen niedergelassenen männlichen Schweizern geteilt werden sollten. 229Die religiöse Rechtfertigung bürgerlicher Werte begann nicht erst mit Strauss’ Der alte und der neue Glaube und war auch in Chur durchaus nichts Neues. Der Bürgerverein hatte schon 1868 in der Debatte der Bündnerischen Volks-Zeitung «die Bande der Pietät» betont, mit denen die Gemeindebürger die Gemeinde führten. Das Ende der ständischen Welt des Ancien Régime mit ihren religiös legitimierten Werteordnungen und Verhaltensanforderungen hatte für die bürgerliche Gesellschaft Churs die Möglichkeit geschaffen, neue Lebensordnungen zu produzieren. Da diese miteinander in Konkurrenz standen, suchte man die neu entstandene Heterogenität metaphorisch zu bändigen. Im Gegensatz dazu war der politische Diskurs in der katholischen Surselva durch ganz wörtlich gemeinte christliche Werthaltungen wie der Nächstenliebe überformt.
In den ersten 15 Jahren seines Bestehens rief das Niederlassungsgesetz in zahlreichen Gemeinden Unmut und Unklarheiten hervor. Einerseits zeigt eine von 31 Gemeinden eingereichte Petition, wie die Gemeindebürger aus ökonomischen Interessen das Niederlassungsgesetz bekämpft haben. Andererseits sind die ersten Rekurse, die aus Thusis, dem Puschlav, aus Samedan und St. Moritz eingereicht wurden, ein erster konkreter Effekt der dualistischen Abgrenzung innerhalb dieser Gemeinden: Sie machte es möglich, dass zwei politische Körperschaften derselben Gemeinde vor den kantonalen Behörden juristisch gegeneinander vorgingen. Obwohl diese kommunale Zersplitterung den Vorstellungen der Bündner Behörden zuwiderlief, tolerierte man die herrschenden Zustände. Bestenfalls versuchte man zaghaft, die Bestimmungen des Niederlassungsgesetzes zu präzisieren. Als Abschluss dieser 1890 endenden ersten Phase der Geschichte des Streits um Eigensrechte und Kompetenzen kehre ich mit dem Churer Schulfondsstreit der 1880er-Jahre noch einmal zu einem Aspekt bürgerlicher Werte zurück. Im Aushandlungsprozess mit der Stadt argumentierte die Bürgergemeinde vergeblich mit dem Wert bürgerlichen Mäzenatentums, um über den Schulfonds als korporatives Eigentum weiterhin selbst verfügen zu können.
3.5 Eine instabile Rechtsnorm: die ersten Eingaben und Rekurse
Ein Dreivierteljahr nach Annahme des Niederlassungsgesetzes schrieb die Standeskommission, «[h]ie und da» seien «in neuester Zeit und mit Rücksicht auf fragliche Gesetzesbestimmung Austeilung von Gemeindsboden wirklich bewerkstelligt, oder wenigstens beschlossen und eingeleitet» worden. 230Unter diesen Gemeinden befanden sich Chur und Gemeinden aus dem Kreis Maienfeld. 231Die Absicht war klar: Man wollte in aller Eile neue Bürgerlöser ausscheiden, weil bereits ausgeteilte Bürgerlöser gemäss Artikel 16 des Niederlassungsgesetzes vor dem Zugriff der Politischen Gemeinde geschützt waren.
Im Folgejahr kam weiterer Unmut in Form einer Petition auf. In 31 Gemeinden hatten Gemeindebürger einen Antrag unterschrieben, der bereits im Dezember 1875 dem Grossen Rat vorlag. Da die Eingabe gedruckt wurde, hat man schon im Grossen Rat vermutet, dass sie allen Gemeinden des Kantons verschickt worden war. 232Unter dieser Voraussetzung ist die Petition ein guter Gradmesser für die Akzeptanz des Niederlassungsgesetzes. Potenziell waren also 186 Gemeinden des Kantons dem Begehren nicht gefolgt. 233Unter den unterzeichnenden befanden sich die Prättigauer Gemeinden Jenaz, Luzein, Schiers und Küblis, die Schanfigger Gemeinden Langwies und Maladers inklusive das angrenzende Churwalden, alle Gemeinden der Kreise Maienfeld, Fünf Dörfer (ausser Says) und Rhäzüns, einige Gemeinden entlang des Hinterrheins (Donat, Fürstenau, Thusis, Splügen, Zillis-Reischen) und drei aus dem Albulatal (Filisur, Stugl, Tiefencastel). Lediglich eine Gemeinde aus der Surselva (Andiast), eine aus dem angrenzenden Kreis Trin (Felsberg) sowie zwei aus Südbünden (Ardez, Roveredo) hatten die Petition unterzeichnet. 234Die Kreise Maienfeld und Fünf Dörfer und die vier Prättigauer Gemeinden hatten bereits das Niederlassungsgesetz abgelehnt.
Die Eingabe von 1875 bezweckte, das Niederlassungsgesetz zu revidieren, weil es «den bäuerlichen Mittelstand» durch zu weitgehende Freiheiten für die Niedergelassenen schädige, Alpen und Wälder übernutzt würden und viele Streitigkeiten und Rekurse entstünden. Wenn nun die 31 Petenten die Kontrolle über das Nutzungsvermögen zurückwünschten, bildet die Petition nichts anderes als die Fortführung der Ablehnung des Niederlassungsgesetzes aus ökonomischem Eigeninteresse, wie es bereits bei der Abstimmung für zahlreiche Gemeinden handlungsleitend gewesen war. Überlegungen zum Wert historischer Kontinuitäten fehlen in der gedruckten Schrift völlig. Zur Sprache kam einzig und allein der finanzielle Eigennutz. 235
Der Grosse Rat wies die Petition als teilweise unbegründet und übertrieben zurück, beauftragte den Kleinen Rat und die Standeskommission aber, Ausführungsbestimmungen zum Niederlassungsgesetz vorzubereiten. 236Der Grosse Rat setzte sich demnach zum Ziel, durch präzisere Vermittlung die nötige Stabilität des neuen Rechts in jenen Gemeinden herzustellen, wo diese neue Norm umstritten war. Das Vorhaben verlief aber im Sand und liess bis 1890 auf sich warten. Der Kleine Rat seinerseits begnügte sich in den folgenden Jahren damit, korrigierend einzugreifen – und liess dabei ein konsequentes Vorgehen vermissen.
Die Tolerierung des Gemeindedualismus und die Beschwörung der Gemeindeeinheit
Unter den Petenten, die bereits früh eine institutionelle Abgrenzung zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde vorgenommen hatten, war die Gemeinde Thusis. Im damals noch wichtigen Warentransitort mit einem Anteil Niedergelassener von 66 Prozent war im Frühjahr 1875 «[z]ur Wahrung und Verwaltung der bürgerlichen Interessen» ein Vorstand gewählt worden. 237
Bereits am 9. Juli desselben Jahres beschloss die Bürgerversammlung von Thusis, an den Kleinen Rat zu rekurrieren, weil die Politische Gemeinde verlangt hatte, ihr die Bürgerlöser seit Herbst 1874 zu versteuern. Noch bevor der Sommer zu Ende war, ersuchte die Bürgergemeinde aus einem weiteren Grund den Rekurs an die Regierung: Die Politische Gemeinde hatte beschlossen, ihr falle das Eigentum am Gemeindewald zu und der Holzschlag sei zunächst für Lehrer, Pfarrer und Schule bestimmt. 238Im Herbst entschied der Kleine Rat in der ersten Frage zugunsten der Bürgergemeinde, dass die Bürgerlöser lediglich ab sofort der Politischen Gemeinde zu versteuern seien. 239In der zweiten Frage entschied der Kleine Rat 1877, dass zwar das Eigentum am Nutzungsvermögen den Gemeindebürgern belassen werde, dass dasselbe aber in erster Linie zur Bestreitung der öffentlichen Gemeindebedürfnisse hinzugezogen werden müsse. 240Im selben Jahr hiess die Regierung eine Beschwerde der Bürgergemeinde Thusis gegen die Festsetzung der Losholztaxen durch die Politische Gemeinde gut. 241
Die gleiche Haltung nahm die Regierung einige Jahre später in einem Rekursfall in Samedan ein. 1885 kam es dort zu einem Rekurs der Bürgergemeinde gegen die Politische Gemeinde. Letztere erkannte zwar Eigentum und Veräusserungsrecht der Bürgergemeinde an den Gemeindealpen an, reklamierte für sich aber das Recht der Verwaltung und Nutzung, worin ihr der Kleine Rat entsprach. Gleichzeitig sicherte die Regierung das Eigentumsrecht an besagten Alpen explizit der Bürgergemeinde zu. 242
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