Insgesamt hat man sich den Prozess der Menschwerdung als einen komplexen Vorgang der Wechselwirkung verschiedener Faktoren vorzustellen, die voneinander nicht zu trennen sind. Es ist also müßig darüber zu streiten, was den Menschen eigentlich zum Menschen gemacht hat. Sicher hat die Vergrößerung seines Gehirns – von ursprünglich etwa vierhundert Kubikzentimetern auf mehr als das Dreifache innerhalb von rund zwei Jahrmillionen – den Menschen zu ganz entscheidenden Innovationen befähigt. Das Gehirn ist der Sitz unserer Persönlichkeit, unseres jeweils spezifischen (individuellen) Denkens, Fühlens und Wollens. Aber der Prozess der Gehirnentwicklung ist in ein komplexes Faktorengefüge eingebettet. Er hängt mit anatomischen Änderungen ebenso zusammen wie mit ökologischen Anforderungen, klimatischen Umständen und sozialer Konkurrenz. Die Evolution des Menschen insgesamt war also kein geradliniger Vorgang, sondern ein sehr komplizierter Prozess, der sich auf vielen verschlungenen Pfaden vollzogen hat.
Wenig umstritten ist, dass Menschen in langen Etappen ihrer Evolution nomadisierend als Jäger und Sammler gelebt haben. Der aufrechte Gang erwies sich bei der Jagd zweifelsohne als erheblicher Vorteil. Als nicht geringer aber ist jener Vorteil einzustufen, den die von der Fortbewegung befreiten Vorderextremitäten dem Menschen boten. Unsere Hände sind universell brauchbare Instrumente. Wir können uns mit ihnen nicht nur festhalten, sondern sie erweisen uns bei der Handhabung von Gegenständen unschätzbare Dienste. Sie erlauben uns, die Feder zu führen, einen Stein mit Meißel und Hammer zu bearbeiten, Klavier zu spielen und vieles mehr. In Verbindung mit einem immer größer werdenden Gehirn und mithin wachsenden Intelligenzleistungen dienten die Vorderextremitäten dem prähistorischen Jäger und Sammler zur Herstellung von immer effizienteren Werkzeugen. Diese ermöglichten ihm, wie gesagt, die Nahrungsbeschaffung und später durch den Gebrauch des Feuers auch die Zubereitung von Nahrung und wirkten sich positiv auf die Bewältigung seines Lebens aus. In der Konkurrenz mit Raubtieren um Beute brachten Waffen wie Steinschleudern oder Speere dem Menschen entscheidende Vorteile. Während beispielsweise Löwen, Tiger, Wölfe oder Bären ihre Beute nur in direktem Kontakt zu ihr und mittels ihrer Pranken und Zähne schlagen können, vermag der Mensch mit Waffen, also gewissermaßen außerkörperlichen Organen, seine Beute aus der Distanz zu erlegen. Obendrein dienen ihm seine Waffen dazu, sich die Raubtiere einigermaßen vom Hals zu halten und so in der Konkurrenz mit ihnen um Nahrung Vorteile zu gewinnen.
Die lange Zeit beliebte These, dass der Mensch von Anfang an ein Jäger gewesen sei und die Jagd seine weitere Evolution gleichsam determiniert habe, ist allerdings nicht mehr haltbar. Vieles spricht dafür, dass die ältesten Hominini in (feuchten) Uferwäldern lebten, die ihnen ein relativ breites Nahrungsspektrum boten: neben verschiedenen Pflanzen beziehungsweise Früchten leicht zu fangende, im Wasser lebende Tiere (zum Beispiel Krebse). Temporär und saisonal bedingt werden sie ihre Biotope aber auch verlassen haben, um sich nach weiteren Nahrungsressourcen umzusehen. Es ist ein lange gehegtes, ein wenig romantisch verklärtes Bild: Ein vierbeiniger, auf Bäumen kletternder Affe stieg von den Bäumen herunter, trat aus dem Wald in die Savanne und richtete sich allmählich auf, womit er zum Menschen wurde. So einfach war es sicher nicht. Die Hominisation erfolgte in verschiedenen Etappen. Unsere ältesten menschlichen Ahnen waren der Bipedie zwar mächtig, beherrschten aber das Klettern noch sehr gut und begaben sich gern auf die Bäume zurück (wo sie auch, noch nicht mit wirkungsvollen Werkzeugen ausgerüstet, Schutz vor manchen Feinden fanden). Der Hang zum Klettern ist uns erhalten geblieben. Welches Kind klettert nicht – wenn man es denn noch lässt! – auch heutzutage gern auf einen Baum …
Kaum zu bestreiten ist jedoch, dass der Mensch während eines beträchtlichen Zeitraums seiner Evolutionsgeschichte, über zwei Millionen Jahre, nomadisierend als Jäger und Sammler gelebt hat. Er ist also der geborene Nomade. Besser sollte man vielleicht sagen: Halbnomade . Denn es liegt nahe, dass sich die steinzeitlichen Jäger und Sammler vorübergehend auch niedergelassen haben, und zwar vor allem an Orten, die ihnen ausreichende Nahrungsressourcen boten. Es wäre ja eine Verschwendung von Energie gewesen, herumzuwandern, wenn das zum Fressen Benötigte in unmittelbarer Umgebung zumindest saisonal verfügbar und das Aufspüren von Ressourcen in größerer Distanz mit Unwägbarkeiten verbunden war. Und man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen: Nichts lag unseren steinzeitlichen Ahnen ferner, als überflüssige Anstrengungen zu unternehmen oder sich unnötigen Risiken auszusetzen. Ihr Leben war ohnedies hart genug. Die auf die Antike zurückgehende Vorstellung eines „goldenen Zeitalters“ irgendwann in grauer Vorzeit und die noch von Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778) vertretene und verteidigte Idee, dass im „Naturzustand“ alles gut gewesen sei und der Mensch in seinem Urzustand glücklich gelebt habe, sind schöne Märchen. Dagegen stellte bereits der Arzt und Philosoph Ludwig Büchner (1824 bis 1899), der populärste Vertreter des Materialismus seiner Zeit, treffend Folgendes fest:
So schön und tief empfunden die Paradies-Sage oder diejenige vom goldenen Zeitalter ist, ebenso unwahr und der Phantasie entsprossen ist sie doch. In Wirklichkeit hat es niemals einen paradiesischen Zustand der Menschheit gegeben, sondern ganz im Gegentheil einen elenden, erbärmlichen Zustand unseres ältesten Vorfahren oder des Urmenschen, aus welchem sich derselbe nur sehr allmählich befreit hat, … nicht durch Göttliche Hülfe, sondern durch eigene, unerhörte Anstrengungen im Laufe zahlloser Jahre und Generationen.
(Büchner 1891, S. 3)
Wann immer es ihm gegönnt war, wird der „Urmensch“, wie gesagt, Anstrengungen vermieden haben – womit er sich in keiner Weise von anderen Tieren unterschied. Auch ein Löwe etwa unternimmt keine zusätzliche Anstrengung, wenn er sich an Ort und Stelle einer fetten Beute versichern darf und obendrein von niemandem behelligt wird. Es herrscht das „Trägheitsprinzip“: Anstrengung lohnt sich nur, wenn sie unmittelbar Erfolg verspricht. Freilich ist das Leben der Tiere (in freier Wildbahn) und war das Leben unserer steinzeitlichen Ahnen von gar vielen Mühen und Plagen gekennzeichnet. Nur satte Mäuler können der Ruhe pflegen.
Nun kurz zu der alten Frage „Woher kommen wir?“.
AFRIKA UND DIE BESIEDLUNG DER ERDE
Abermals war es Charles Darwin, der bereits die richtige Vermutung hinsichtlich unserer „Urheimat“ äußerte: Afrika. Alle Fossilien, die das früheste und frühe Auftreten von Menschen (Hominini) heute belegen, stammen aus diesem Kontinent. Mittlerweile sind es recht viele Funde, die verschiedene Gattungen und Arten repräsentieren. Keineswegs alle können hier berücksichtigt werden. Zu erwähnen ist aber zunächst Ardipithecus ramidus aus Äthiopien, der älteste bisher bekannte „Mensch“, eine Spezies jedenfalls, die schon zur bipeden Fortbewegung befähigt gewesen sein muss und vor über fünf Jahrmillionen auftrat. Seine Existenz ist erst seit den 1990er Jahren bekannt. Auf eine längere Entdeckungsgeschichte kann die Gattung Australopithecus zurückblicken, die nach wie vor häufig als „Urmensch“ bezeichnet wird. Der erste Fund dieser Gattung stammt aus dem Jahr 1924. Heute werden, je nach Gesichtspunkt, fünf bis acht Spezies unterschieden, die älteste von ihnen ist Australopithecus anamensis , der ein Alter von über vier Millionen Jahren aufweist. Andere Arten sind der rund drei Millionen Jahre alte Australopithecus africanus und Australopithecus robustus (auch Paranthropus robustus genannt), der vor etwa zwei Jahrmillionen auftrat. Es muss davon ausgegangen werden, dass in den frühen (teils auch in späteren) Phasen seiner Evolution mehrere Gattungen und Arten des Menschen zeitgleich und auch in derselben Region gelebt haben. Wie mögen sie einander begegnet sein? Eine spannende Frage. Wahrscheinlich standen sie in Konkurrenz zueinander und besetzten unterschiedliche ökologische Nischen. Mag sein, dass sie sich gelegentlich auch gehörig in die Quere kamen. Aber Näheres bleibt derzeit noch Mutmaßungen überlassen, vieles wird vielleicht für immer im Dunklen bleiben (obwohl man in der Wissenschaft ein Problem nie resignierend als grundsätzlich unlösbar erachten sollte).
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