Jost zeigte dem jungen Prinzen zunächst die mit französischen Büchern kärglich ausgestattete Bibliothek, dann sein Quartier, ein geräumiges, aber in dieser Jahreszeit düsteres Zimmer im Seitenflügel des Schlosses, das bisher Georg Anton Vieli benutzt hatte. Darin befanden sich ein Tisch, ein Stuhl, eine Pritsche und ein grosser Ofen, der vor Hitze summte. Mit dem Bett, auf dem bloss eine Strohmatratze lag, konnte sich Louis-Philippe bis zum Schluss nicht anfreunden, und Jost lieh ihm einige Decken aus.
8 — Lehrer Chabos alias Louis-Philippe, Herzog von Orléans, im Schloss Reichenau. Der nachmalige und letzte König der Franzosen (1830–1848) liess für seine königliche Galerie dieses Gemälde anfertigen (jetzt in Versailles), von dem er, als Dankbarkeit für seine Zufluchtsstätte, dem Schlossherrn von Reichenau eine Kopie schenkte. Das Louis-Philippe-Zimmer im Schlossflügel ist heute noch zu besichtigen; es wurde im 19. Jahrhundert für Bündenreisende zum touristischen Anziehungspunkt.
Vor dem Abendessen stellte Jost ihn Rusterholz, Juvenal, Deporta und den ungefähr 15 Schülern als ihren neuen Lehrer vor. Aus Briefen von Louis-Philippe an General Montesquiou wissen wir einiges über seinen Aufenthalt in Reichenau und kennen seine Einschätzung der Kollegen. 152
Deporta, ein bereits älterer Priester, schrieb er, habe sich mit liebenswürdigen Worten an ihn gewandt, während Rusterholz einige Sätze in schlechtem Französisch stammelte. Juvenal, den Louis-Philippe als kleingewachsen, mit Adlergesicht und Siebentagebart schildert, habe einen blauen, fremdartig geschnittenen Anzug getragen, eine schwarze Weste, wie man sie von Basken kannte, eine grüne amerikanische Hose und eine Mütze, die seinen glänzenden Kahlkopf bedeckte. Deportas Pflichten bestanden nach der Aussage von Louis-Philippe darin, den einzigen katholischen Schüler (also Ruggiero) in Religion zu unterweisen, einige Stunden Latein zu erteilen, die Messe zu lesen und die gemeinsame Tafel zu präsidieren, an der auch Jost gewöhnlich teilnahm.
Juvenal habe sich mit ruckartigen Bewegungen und feurigem Blick auf ihn gestürzt, um sich zu erkundigen, ob er Musiker sei, und sei enttäuscht gewesen, als Louis-Philippe verneinte. Er sei Violinist, habe Juvenal in einem italienischen Wortschwall erzählt, stamme aus der Dauphiné, aus der seine Familie durch den Widerruf des Edikts von Nantes vertrieben worden sei. Später sei er ins Bergell gekommen, das er nach dem Verlust seines ganzen Vermögens mit seinem Sohn verlassen habe, um sich als Repetitor zu verdingen. Die Musik sei sein einziger Trost, und er suche vergeblich einen Gefährten, der seine Vorliebe teile.
An jenem Abend wurde Suppe, gekochtes und gebratenes Fleisch und Sauerkraut gereicht. Louis-Philippe verabscheute Sauerkraut und andere ihm ungewohnte Speisen. Schon beim Anblick einer fettigen Pastete, die ausgesehen habe, als sei sie mit Schnecken gefüllt (tourte de limaçons), wurde ihm übel. Auch in Butter gekochte Dörrfrüchte und gebratene Teigwaren mochte er nicht. Jost ärgerte sich über diese Ansprüche und das für einen Offizier ungehörige, unbeherrschte Verhalten. 153
Der junge Prinz muss mit seinem gezierten Benehmen, den feinen Hemden und Halstüchern, die er täglich wechselte, in Reichenau wie ein bunter Vogel gewirkt haben. 154Er lebte zurückgezogen, war viel mit seiner Korrespondenz beschäftigt und oft kränklich. Nachdem Nesemann seine Fähigkeiten geprüft hatte, wurde ihm, bis sein Deutsch sich verbessert habe, ein einzelner Schüler zugewiesen. Als Entgelt für Essen und Unterkunft sollte er täglich zwei Lektionen erteilen, am Morgen Geometrie, am Nachmittag Arithmetik oder Geografie. 155Nach Ablauf von drei Monaten würde man dann ein Honorar für seine Tätigkeit festlegen. Louis-Philippe willigte ein, wollte aber für seinen Unterhalt bezahlen, und so legte man einen Preis von vierzig Sous täglich fest, die er entrichten sollte, sobald er wieder über Geld verfüge. Dafür brachte ihm Jost frische Früchte und Süssigkeiten aufs Zimmer, der Hausdiener bürstete seine Kleider und reinigte die Schuhe, und seine Wäsche wurde regelmässig gewaschen und gebügelt, ohne dass jemand es bemerken sollte.
Louis-Philippe gab sich Mühe, nicht aufzufallen, ass zusammen mit den Lehrern und Schülern, und wenn er die Speisen nicht vertrug, begnügte er sich mit Brot. Dem Stundenplan vom Wintersemester 1793/94 zufolge erteilte er Ruggiero (Louis-Philippe schrieb ihn «Rugié») von 9 bis 10 Uhr Geometrie. Vielleicht nahm auch Merkel aus Ravensburg daran teil, weil manchmal von zwei Schülern die Rede ist. 156Merkel zählte etwa 14, Ruggiero 16 Jahre, er war also wohl der älteste Schüler in Reichenau. Louis-Philippe willigte ein, Rusterholz und Josephine Jost, der Tochter des Verwalters, Französisch beizubringen; auch Tscharners Söhnen erteilte er privat Französischstunden. Dafür wurde er von Tscharner nach Chur eingeladen, 157was ihm viel bedeutete, da er sich in Reichenau sehr eingeschränkt fühlte. Peter Conradin Tscharner, einer der jüngeren Söhne, der mit sieben Jahren noch zu jung war, um das Seminar Reichenau zu besuchen, und vermutlich erst 1796 dazu stiess, schrieb fast ein halbes Jahrhundert später aus der Erinnerung: «Jeder von uns wünschte in die Klasse des Herrn Chabos eingeteilt zu werden, so sehr und allgemein hatte das einnehmende Äussere und die Freundlichkeit seines Betragens die jungen Gemüter für den neuen Ankömmling eingenommen.» 158
9 — Schulszene im Seminar Reichenau in einer Lithografie von Charles-Étienne-Pierre Motte nach einer Zeichnung von Léon-Auguste Asselineau, um 1835. Rechts sieht man Louis-Philippe von Orléans beim Unterrichten. Die Pose mit Erdkugel und Landkarte erinnert an imperiale Darstellungen Napoleons I. und weist auf seine Regentschaft voraus. Die beiden Knaben am offenen Fenster huldigen ihm wie einem Herrscher mit gebeugten Knie, was dem republikanischen Geist in Reichenau deutlich widerspricht. In der Mitte scharen sich Schüler um Johann Peter Nesemann und im Hintergrund verweist ein weiterer Lehrer, vermutlich der Violinist Anton Gubert Juvenal (Geige an der Wand), einen schläfrigen Schüler des Zimmers. Der Gast links vorne, der den Unterricht aufmerksam verfolgt, ist mit Bestimmtheit Johann Baptista von Tscharner, Kurator des Seminars. Von den kompositorischen Zugeständnissen und apotheotischen Überhöhungen abgesehen, wirkt die Darstellung realitätsnah. Man beachte den grossen Altersunterschied der Schüler, was einen Klassenunterricht erheblich erschwerte.
Mit der Köchin, einer jungen Italienerin namens Marianne Banzori, ging er ein Verhältnis ein, das Folgen zeitigte. 159Jost war ärgerlich, nicht weil der Herzog von Orléans und spätere König von Frankreich ein Mädchen geschwängert hatte, warum aber ausgerechnet die Köchin? Wo sollte er jetzt eine neue hernehmen? General von Montesquiou nahm die Angelegenheit auf die leichte Schulter. Am französischen Hof sei dies nichts Ungewöhnliches; in ähnlichen Fällen suche man für die Schwangere einen standesgemässen Mann und für das uneheliche Kind passende Eltern. Der Prinz begriff nicht, dass er Vater werden sollte. Hatte er nicht alle notwendigen Vorkehrungen getroffen? Womöglich hatte seine Geliebte noch andere Liebhaber, mutmasste er, vielleicht jenen Zimmermann, von dem sie sich angeblich getrennt hatte.
Jost mochte solche Unterstellungen nicht. Marianne Banzori sei gewiss keine Jungfrau mehr gewesen, schrieb er Montesquiou, aber doch auch keine Hure; die Franzosen hätten gut daran getan, alles aus dem Land zu werfen, was einem Prinzen glich. Schliesslich erklärte Louis-Philippe sich bereit, für die Niederkunft der Geliebten in Italien und die Aufzucht des Kindes aufzukommen. Marianne Banzori versöhnte sich mit ihrem «Chabosli» und liess ihn wieder in ihre Kammer. Nach seinem Abschied von Reichenau schrieb er ihr noch einige warme Liebesbriefe aus Bremgarten, dann war die Beziehung zu Ende. 160Marianne Banzori brachte im Dezember 1794 in Mailand ihr Kind zur Welt, danach verliert sich ihre Spur.
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