Das Herauswachsen erfolgte in manchmal kleineren und manchmal grösseren Schritten und wurde durch den Dreissigjährigen Krieg zweifellos beschleunigt. Auch nach 1648 waren aber nur ein Teil der internationalen Akteure moderne Staaten, ein anderer leitete seinen Status weiterhin aus dem Lehenssystem ab. Der Friedensvertrag von Osnabrück nennt als Parteien verschiedene Könige und Königinnen, «Häuser» wie etwa Österreich, Kurfürsten und Fürsten, Reichsstände unter Einschluss der Reichsritterschaft und schliesslich Territorialstaaten wie die Hansestädte, die Niederlande sowie die «Kantone der Schweiz». Es war ein vielfältiges Neben- und teilweise auch Übereinander von Herrschaftsträgern. Auch im späten 17. und selbst im 18. Jahrhundert überlagerten sich neue säkular-völkerrechtliche und alte reichs-, thronfolge- und lehensrechtliche Strukturen. Das Alte wich dem Neuen, aber nur langsam, und das Herauswachsen des Völkerrechts aus den mittelalterlichen Strukturen dauerte mehrere Jahrhunderte. Im Grunde begann der Prozess spätestens im 15. Jahrhundert und endete erst mit dem Untergang des Heiligen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806. In diesem Jahr wurde die Kaiserkrone des christlichen Universalreichs endgültig niedergelegt. 7
Wandel des Völkerrechtsverständnisses
Das Völkerrechtsverständnis veränderte sich im Lauf dieser mehr als drei Jahrhunderte grundlegend. Die Veränderungen lassen sich als Verschiebung von einem Denken in Kategorien eines «Binnenrechts des christlichen Universalreichs» zu einem Denken in Kategorien eines säkularen Völkerrechts der westchristlichen Staatenwelt beschreiben. Es war eine Entwicklung von einem theologischen zu einem säkularen Rechtsdenken. Im christlichen Universalreich war die Frage nach den Regeln für den Verkehr zwischen Herrschaftsträgern eine theologische Frage. Das Recht stellte man sich als Ordnung für die ganze Welt vor, als Einheit, die in der Krönung des Kaisers durch den Papst mit Primat des Papstes symbolischen Ausdruck fand. Zu diesem Denken gehörte auch eine Grundunterscheidung zwischen Christen und der nichtchristlichen Menschheit. Päpstliche Edikte schufen auf der Grundlage dieser Unterscheidung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein erstes spätmittelalterliches Kolonialvölkerrecht, das spätere Entwicklungen in diesem Bereich stark vorzeichnete. Folgenreich war unter diesen Edikten insbesondere die Bulle «Inter Caetera» von 1493, die die überseeisch-nichtchristliche Welt in eine westlich-spanische und eine östlich-portugiesische Hemisphäre unterteilte. Sie sprach indigenen Völkern implizit die Fähigkeit zu eigener Rechtsträgerschaft und Eigentumsrechten im Besonderen ab.
Zentral für die Säkularisierung im Allgemeinen und auch des Rechtsdenkens war die dauerhafte Schwächung des Papsttums, die bereits im frühen 14. Jahrhundert begann. Parallel zum Abstieg des Papsttums vollzog sich die Herausbildung der Territorialstaaten, die das Feudalsystem in kleinen Schritten verdrängten. 8Aus ursprünglich an die Person gebundenen Lehen wurden in einem langen Prozess zusammenhängende Herrschaftsterritorien, Vorformen moderner Territorialstaatlichkeit. Der Abstieg des Papsttums, der Aufstieg territorial organisierter Herrschaft sowie die Glaubensspaltung bewirkten einen Verweltlichungsschub des Politikverständnisses. Das Denken in den Kategorien «gut» und «böse» erhielt Konkurrenz in Form eines Denkens in Interessengegensätzen. Weiter verstärkt wurde diese Verschiebung durch den Aufstieg der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaften und der Empirie als induktiver Methode. Die Formulierung des Souveränitätskonzepts durch Jean Bodin im späten 16. Jahrhundert markierte einen Höhepunkt dieser Neuformulierung politischer und rechtlicher Kategorien. Das Souveränitätskonzept sollte sich – nicht auf einen Schlag, sondern ebenfalls schrittweise – zu einem Angelpunkt des neuen politischen Denkens und des Völkerrechts entwickeln.
Die Säkularisierung von Politik und Völkerrecht, das hier in erster Linie interessiert, erfolgte in Teilschritten. Oft wird übersehen, dass das Denken in theologischen Kategorien oder zumindest die Arbeit mit theologischen Hintergrundannahmen auch nach 1648 noch der Normalfall war. Im vollen Wortsinn säkularisiertes Denken gab es bei für das Völkerrecht relevanten Autoren des 17. Jahrhunderts im Grunde nur bei Thomas Hobbes (1588–1679) und Baruch Spinoza (1632–1677). Bei beiden führte es zu einem skeptischen Blick auf das Völkerrecht. Hobbes etwa betrachtete die Durchsetzung der Norm, die Sanktioniertheit in der Realität, als entscheidendes Kriterium für Recht, weshalb er dem Völkerrecht die Rechtsqualität absprach. Das Denken der meisten Völkerrechtsautoren des 17. Jahrhunderts, von denen gleich näher die Rede sein wird, war nur teilweise säkular. Unmittelbare Bezugnahmen auf theologische Fragen und direkte Ableitungen rechtlicher Regeln von Gott spielten zwar eine weit geringere Rolle als noch im 16. Jahrhundert. Fast alle arbeiteten aber weiterhin mit der Annahme, die Welt und das Recht seien göttliche Schöpfungen. 9
Es können zwei Hauptvarianten dieser (teil-)säkularisierten Völkerrechtslehre unterschieden werden. Einige Autoren, die zu den Klassikern der frühen Völkerrechtswissenschaft gehören, sollen mit ihrem Hauptwerk kurz erwähnt werden. Verschiedene Autoren des 17. Jahrhunderts wandten sich zunächst den Usanzen des internationalen Verkehrs zu. Sie interessierten sich für die Praxis, wie man die sich konkret stellenden Probleme real löste, welche Normen man als verbindlich empfand. Diese Strömung wird in der Regel als früher völkerrechtlicher Positivismus bezeichnet. Er ist vom sozialwissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden, wobei der gemeinsame Nenner dieser Positivismen der Akzent auf dem eindeutig Vorfindlichen ist. Erwähnung verdient unter den Autoren dieses frühen völkerrechtlichen Positivismus etwa Richard Zouche (1590–1661), Professor in Oxford, dessen Hauptwerk den Titel «Iuris et iudicii fecialis, sive, iuris inter gentes» trägt und 1650 erschien. Ein anderer bedeutender Positivist war der Niederländer Cornelis van Bynkershoek (1673–1743), der mit dem 1702 veröffentlichten Werk «De dominio maris dissertatio» ein wichtiges Buch zur Praxis des Seerechts verfasste.
Ein anderer Teil der Autoren setzte, vereinfacht gesagt, die Vernunft an die Stelle Gottes. 10Die Vernunft wurde für sie zur Quelle des Völkerrechts. Rezeptionsgeschichtlich die grössten Wirkungen gingen von Hugo Grotius (1583–1645) aus, dessen Hauptwerk «De iure belli ac pacis» ist. Es ist 1625, mitten im Dreissigjährigen Krieg, erschienen und hat Völkerrecht und Völkerrechtswissenschaft über Jahrhunderte stark beeinflusst. Grotius wird manchmal, überzeichnend, als «Begründer» des säkularen Völkerrechts bezeichnet. Er befasste sich nicht nur mit grundsätzlichen Fragen, sondern auch intensiv mit Detailregeln und spurte manche Entwicklung vor. Auch er hatte aber bedeutende Vorgänger, vor allem spanische Autoren, die allerdings noch stärker im mittelalterlich-theologischen Denken verhaftet waren. Sie hatten in der Folge der Entdeckung Amerikas Fragen aufgeworfen und behandelt, die im Kern völkerrechtlicher Natur waren. Zu erwähnen ist etwa die während der nächsten Jahrhunderte wichtige Frage nach dem – in heutiger Terminologie – völkerrechtlichen Status indigener Völker. Letzter Geltungsgrund des Rechts ist aber auch bei Grotius noch Gott. Er ging allerdings in Anlehnung an den Philosophen Gregor von Rimini davon aus, dass das Naturrecht auch ohne Gott gelten würde. Säkularität ist hier zumindest angedacht.
Ein anderer bedeutender, vernunftrechtlicher Völkerrechtsautor war Christian Wolff (1679–1754). Wolff, Philosophieprofessor in Halle, veröffentlichte 1749 sein Hauptwerk «Ius gentium methodo scientifica pertractatum». Er ging davon aus, dass die vernünftige Natur die Staaten dazu verpflichtet, sich in einer universellen «civitas maxima» zu verbinden und zusammenzuarbeiten. Wolff betont die Entwicklungsfähigkeit von Menschen und Staaten und gilt als Vertreter der «idealistischen» Denkrichtung. Weiter verdient unter den Naturrechtsautoren Emer de Vattel (1714–1767) Erwähnung. Sein Hauptwerk «Droit des gens, ou principes de la loi naturelle» erschien 1758. Vattel war der Erste, der das Völkerrecht konsequent als aus der Naturvernunft folgendes Recht zwischen Staaten und nicht bloss zwischen Herrschaftsträgern beschrieb. Damit «verschwand» der einzelne Mensch gewissermassen im Staat. Vattels Denken ist wesentlich, aber nicht nur von Ideen eines «realistischen» internationalen Weltbilds geprägt. Es hatte grossen Einfluss und war etwa den «Founding Fathers» der Vereinigten Staaten gut bekannt.
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