Dieses Buch ist für interessierte Laien und für Studierende geschrieben. Es enthält viele Beispiele und rekapituliert wichtige Fälle, die man kennen sollte. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auch darauf, was zu einem Thema aus schweizerischer Sicht zu sagen ist. Das Buch will dazu beitragen, die Hintergründe der in der Schweiz heftig geführten Debatte um das Völkerrecht besser auszuleuchten. Es will zu einer Versachlichung dieser Diskussion beitragen, die in beiden Lagern zu sehr in den Kategorien «gut» gegen «böse» geführt wird. Diese Versachlichung kann meiner Meinung nach nur erreicht werden, wenn das Völkerrecht in seinen Besonderheiten und seiner Bedeutung für die Zukunft besser verstanden wird. Der Weg dorthin führt über die Vergangenheit. Die Geschichte des Völkerrechts erzählt uns, weshalb es heute ist, wie es ist. Um der Lesbarkeit willen habe ich auf ausführliches Bibliografieren verzichtet und mich auf ausgewählte Literaturhinweise beschränkt.
Entstehung und Entwicklung Teil 1 
Das Völkerrecht – verstanden als Recht zwischen relativ unabhängigen politischen Einheiten – hat viele Anfänge. Im Süden Mesopotamiens etwa gab es Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus rechtlich geprägte Beziehungen zwischen verschiedenen Stadtstaaten, die man als früheres Völkerrecht bezeichnen kann. Sumerische Städte kooperierten, um sich gemeinsam gegen das Volk Akkad im Norden Mesopotamiens zu verteidigen, schlossen etwa Schiedsverträge und Nichtangriffspakte. 1Auch im chinesischen Kulturraum gab es weit vor der christlichen Zeitrechnung völkerrechtliche Beziehungen in diesem weit verstandenen Sinn, das heisst als rechtlich bindend empfundene Abmachungen zwischen relativ unabhängigen Reichen.
Wenn man den Begriff des Völkerrechts genügend weit fasst, kennt fast jeder Kulturraum ein frühes Völkerrecht. Der in diesem Buch verwendete Begriff ist enger. Als Völkerrecht wird hier das in der frühen Neuzeit ab dem 15. Jahrhundert in Europa entstandene Recht zwischen, vor allem, modernen Territorialstaaten verstanden, von dem das heutige Völkerrecht direkt abstammt. 2Zwischen dem damals entstandenen und dem heutigen Völkerrecht besteht trotz aller Brüche im Prinzip Kontinuität. Im 16. Jahrhundert – genauer: 1576 – wurde das Konzept der Souveränität erfunden. Es wird in der UNO-Charta, mit allen Relativierungen zwar, im ersten ihrer Grundsätze erwähnt. Sie spricht in Artikel 2 Ziffer 1 vom Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten. Der Staatstheoretiker Jean Bodin erfand das Konzept als Antwort auf die Konfessionskriege seiner Zeit, verheerende Kriege, und es veränderte in der Folge das politische und rechtliche Denken grundlegend. Ein vertieftes Verständnis der Hintergründe, Leistungen und Schwächen des Souveränitätsbegriffs ist für das Verständnis des heutigen Völkerrechts fundamental. Natürlich bedeutet der Begriff heute etwas anderes als damals. Er hat in den Ohren vieler etwas Antiquiertes und Rückständiges, und das nicht ohne Grund. Dennoch verdient Hervorhebung, dass man viele Institutionen des heutigen Völkerrechts nur einordnen, ihre Leistungen und Schwächen erst verstehen kann, wenn man sie vor dem Hintergrund ihrer Verwobenheit mit der frühneuzeitlich-europäischen Politikgeschichte betrachtet.
Wer die Geschichte des heutigen Völkerrechts in Europa beginnen lässt, muss mit Fragen oder gar Vorwürfen rechnen. Wäre es nicht wichtig und richtig, würden die höflichen unter den kritischen Stimmen fragen, die vielen Anfänge in den Blick zu nehmen, eine multikulturelle Perspektive zu wählen, da das heutige Völkerrecht doch ein Recht aller Kulturen und Erdteile ist? 3Ist die hier gewählte Perspektive nicht – einmal mehr – Ausdruck der Selbstbezogen- und Borniertheit europäischer Autoren, die die anderen Erdteile mit Ausnahme des nordamerikanischen als Mitläufer betrachten? Die in solchen Fragen formulierte Kritik wäre gerechtfertigt, wenn ich behaupten würde, es habe nur in Europa so etwas wie ein frühes Völkerrecht gegeben und die anderen Anfänge seien völkerrechtshistorisch unbedeutend oder uninteressant. Das liegt mir fern. Ich beginne in der europäischen frühen Neuzeit, weil sowohl die Leistungsfähigkeit als auch die Defizite vieler Institutionen des heutigen Völkerrechts erst hervortreten, wenn man die ihnen zugrunde liegenden politischen Ideen und ihre Hintergründe kennt. 4Der Grundsatz gegenseitiger Nichteinmischung der Staaten in innere Angelegenheiten, der in Artikel 2 Ziffer 7 der UNO-Charta aufgeführt ist und als «Interventionsverbot» bezeichnet wird, steht genealogisch in direktem Zusammenhang mit den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein wesentlicher Treiber dieser Bürgerkriege waren Interventionen zugunsten der eigenen Konfessionsangehörigen. Man stand ihnen bei, etwa wenn sie Minderheiten in anderen Staaten waren. Das aus der Souveränitätsidee abgeleitete Interventionsverbot trug unter solchen Vorzeichen zum Frieden bei, weil es Einmischungen Grenzen setzte. Es wird heute oft kritisiert, durchaus mit vielen guten Gründen. Dies geschieht vor allem, weil es etwa von Diktatoren und Autokraten zur Abwehr von Kritik an Menschenrechtsverletzungen verwendet wird. Das Wissen um die Herkunft des Prinzips lässt uns aber wichtige Fragen stellen, etwa die sehr heikle, wann Einmischungen im Ergebnis mehr Schaden anrichten als helfen. Wie weit sind Erfahrungen, die zur Entstehung des Interventionsverbots geführt haben, für die Gegenwart von Belang? Ist in dem Prinzip mehr historische Erfahrung eingelagert, als sein heute schlechter Klang vermuten lässt? Eine rein menschenrechtlich-zeitgenössische Optik, die zwar wichtig, aber nicht die einzige ist, nähert sich diesem schwierigen Fragenkomplex zu eindimensional an.
Suche nach konfessionell neutralem Recht: Friedensvertrag von Münster 1648.
Herauswachsen aus mittelalterlichen Strukturen
Viele Darstellungen des Völkerrechts lassen seine Geschichte 1648 mit den Westfälischen Friedensverträgen von Münster und Osnabrück beginnen. Diese beendeten den Dreissigjährigen Krieg, einen militärischen Flächenbrand, der wegen seiner Dimensionen in der damaligen Zeit manchmal mit den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts verglichen wird. 1648 hatte sich eine Reihe moderner Territorialstaaten ausgebildet und etabliert, sodass man etwas grosszügig von einem «modernen Staatensystem» sprechen konnte, das oft als Westfälisches Staatensystem bezeichnet wird. 5Die bereits entstandenen Staaten hatten begonnen, sich als souverän zu charakterisieren. Viele Gemeinwesen waren allerdings erst auf dem Weg zu Souveränität oder scheiterten unterwegs. Man wollte als souverän anerkannt sein. Die Etikette galt als Ausdruck dafür, dass man sich in der sich neu formierenden internationalen Ordnung etabliert hatte.
Das militärische Patt nach den Konfessionskriegen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts hatte zur Folge, dass man ein konfessionell neutrales Recht für rechtliche Beziehungen zwischen europäischen Herrschaftsträgern brauchte. Die christliche Ordnung – es gab nun in der Westchristenheit zwei: die katholische und die protestantische – konnte nicht mehr die Klammer bilden. So entstand, vereinfacht gesagt, das moderne säkulare Völkerrecht. In den Friedensverträgen von Münster und Osnabrück schrieb man das Prinzip der religiösen Toleranz zwischen den Konfessionen fest. Das war ein wichtiger und kaum zu überschätzender Schritt in Richtung säkulare zwischenstaatliche Rechtsordnung. Die Vorstellung allerdings, dass das Völkerrecht am Ende des Dreissigjährigen Kriegs «geboren» wurde, ist verzerrend oder gar irreführend. Es gab keinen scharfen Bruch mit dem Dagewesenen, obschon dies im völkerrechtlichen Schrifttum manchmal so dargestellt wird. Passender ist das Bild des Herauswachsens des säkularen Völkerrechts aus langsam immer schwächer werdenden spätmittelalterlichen Strukturen des christlichen Universalreichs. 6
Читать дальше