Die klassische systemische Beratung bestand aus einem Interview, in dem die Kontextanalyse den Anfang bildete und in dessen Verlauf auf das Zusammenspiel der Akteure fokussiert wurde. Informationen wurden als Unterschiede erfragt oder erzeugt. Dabei spielte das zirkuläre Fragen eine zentrale Rolle. Außerdem wurden viele positive Konnotationen und Umdeutungen der systemischen Zusammenhänge eingeführt.
Die Beratung schloss gewöhnlich mit einer Beratungspause und einer nachfolgenden systemischen Intervention, die nicht weiter diskutiert werden durfte, damit sie ihre Wirkung im System entfalten konnte. Mit der Zeit nahm die hervorgehobene Bedeutung der Abschlussintervention ab und die vielen kleinen Vorgänge im Beratungsgespräch gewannen als das Agens der systemischen Beratung an Bedeutung. Um den Lesern einen Geschmack von dieser klassischen Vorgehensweise und den begeisternden Perspektiven, die sie eröffnete, zu geben, folgt ein fiktiver Beratungsbericht (SCHMID 1987) aus dieser Zeit. Schmunzeln ist erlaubt.
1.11 Klein-Bonum – ein Beispiel für klassische Systeminterventionen
Angenommen, wir würden vom Häuptling des Asterix-Dorfes um eine Konsultation gebeten, weil er den Eindruck hat, dass sein Dorf nicht mehr so hochmotiviert und schlagkräftig sei, wie dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.
Schon am Telefon fragen wir, für wen dies ein Problem sei, und erfahren, dass die Frau des Häuptlings nach Rücksprache mit der Frau des Fischhändlers diesen Eindruck gewonnen und der Druide dazu geraten habe, vorsichtshalber externe Organisationsberater hinzuzuziehen, da ein solches Problem möglicherweise mit seinen üblichen Heilmitteln nicht gelöst werden könne.
Zur ersten Beratung an unserem Institut erscheinen der Häuptling, Asterix, Obelix und der Druide. Nachdem wir die Klienten begrüßt haben, schildern wir den bisherigen Überweisungskontakt mit dem Häuptling und fragen diesen als nächstes, wie es zur Auswahl der heute am Gespräch Beteiligten kam, und er erklärt, dass diese ausgewählt wurden, weil sie üblicherweise mit zentralen Fragen der Dorfgemeinschaft beschäftigt würden. Auf unsere Frage, wer von den Anwesenden am ehesten ein Beratungsgespräch für sinnvoll halte, und wer am skeptischsten einem solchen Unterfangen gegenüber stehe, schätzt der Häuptling sich selbst als sehr besorgt, den Druiden als motiviert weil vorsichtig, Asterix und Obelix eher als desinteressiert ein. Durch Rückfragen bei den anderen bestätigt sich diese Einschätzung. Obelix – befragt, wer denn die Initiative zu dem Gespräch ergriffen habe – verweist auf den Häuptling. Er und Asterix seien mitgekommen, weil es zur Zeit ohnehin langweilig im Dorf sei und dies eine willkommene Abwechslung böte. Außer dass er möchte, dass wieder etwas los ist im Dorf, habe er keine Wünsche. Dass die Beratung im Dorf für Action sorgen könne, kann er sich nicht vorstellen. Asterix schließt sich der Äußerung von Obelix in etwa an. Auf unsere Frage, wer sich denn nun am meisten Sorgen mache, hören wir, dass es die Frau des Häuptlings und die des Fischhändlers seien, und dass der Häuptling und der Druide die heutige Konsultation vereinbart hätten, weil sich auch aus Sicht des Druiden psychosomatische Beschwerden aus unerklärlichen Gründen im Dorf mehrten.
Nun fragen wir den Häuptling, was er denn glaube, was seine Frau und die des Fischhändlers damit meinen könnten, wenn sie sagen, die Schlagkraft und der Enthusiasmus hätten nachgelassen. Wir erfahren hier, dass diese beiden einerseits eine lahme und ungesunde Stimmung im Dorf wahrnähmen, andererseits sich Streitereien – etwa zwischen dem Fischhändler und seiner Kundschaft oder zwischen dem Häuptling und seiner Frau – in letzter Zeit auf unangenehme Weise häuften. Das konkrete Interesse des Häuptlings sei, weniger mit seiner Frau zu streiten, das des Druiden, weniger psychosomatische Beschwerden behandeln zu müssen, und das von Asterix und Obelix, dass das Leben im Dorf wieder interessanter würde. Bei näherem Nachfragen erfahren wir hier, dass die Lebendigkeit im Dorf aus der Sicht von Obelix etwas mit Auseinandersetzungen mit Römern zu tun habe, und dass nach seiner Vermutung alle Probleme gelöst wären, wenn die Römer, anstatt diese irritierende Friedensinitiative zu betreiben, wie üblich ein- bis zweimal im Monat das Dorf angriffen.
Auf unsere Frage an den Häuptling, was denn bisher in der Sache schon unternommen worden sei, erfahren wir, dass bezüglich der körperlichen Krankheiten der Druide schon selbst alles ausprobiert und eine ganze Reihe von Kollegen hinzugezogen habe, die aber die Probleme nicht hätten lösen können. Außerdem seien seit geraumer Zeit Obelix und Asterix als Schlichter zwischen dem Häuptling und seiner Frau, ebenso wie zwischen dem Fischhändler und seinen Kunden tätig. Trotz täglicher intensiver Überredungsversuche gäben die Beteiligten jedoch ihre Streitereien nicht auf. Dennoch wolle man von den externen Beratern gerne eine Einschätzung der umstrittenen Fragestellungen, die vielleicht für die beteiligten Streitparteien eine Klärung und für Asterix und Obelix eine Entlastung von ihrer internen Beratertätigkeit bringen könnte. Wir fragen den Druiden, was denn voraussichtlich passieren würde, wenn Asterix und Obelix in dieser Weise entlastet würden, und er meint, dass sich die beiden bald selbst in die Haare bekämen, wenn ihre Freundschaft nicht durch einen gemeinsamen Kampf gegen die Römer eine erneute Bestätigung erhalte. Asterix und Obelix stünden nämlich in einem engen Konkurrenzverhältnis, wer von ihnen denn der größere Held sei. Nun fragen wir den Häuptling, was denn im Dorf die größere Beunruhigung hervorrufen würde: wenn der Häuptling sich mit seiner Frau und der Fischhändler sich mit seinen Kunden streiten, oder wenn Asterix und Obelix sich in die Haare gerieten. Der Häuptling meint, dass das Letztere das Bedrohlichere sei. Wir fragen nun Asterix und Obelix, ob sie dem zustimmen, dass sie möglicherweise in Streitereien verfielen, wenn sie nicht als interne Berater zu täglichen Schlichtungen herangezogen würden, und sie bestätigen die Einschätzung der anderen. Auf die Frage, wie wir am ehesten dazu beitragen könnten, die gegenwärtigen Probleme zu verschlimmern, erfahren wir, dass dies dann der Fall sei, wenn wir tatsächlich die gegenwärtigen Streitereien beenden würden, ohne dass für Asterix und Obelix eine neue, kräftebindende Aufgabe geschaffen würde. Denn Asterix und Obelix seien nun mal Helden, die mit außergewöhnlichen, scheinbar unlösbaren Aufgaben betraut werden müssten.
Dann fragen wir den Häuptling: »Angenommen, im nächsten Monat könnten entgegen dem gegenwärtigen Anschein wieder Angriffe der Römer auf das Dorf beobachtet werden, vermutest Du, dass dann die Streitereien gleich bleiben, zunehmen oder abnehmen?« Der Häuptling meint, von allen durch Nicken unterstützt, dass sie dann drastisch abnähmen. Eine ähnliche Antwort erhalten wir bezüglich der psychosomatischen Beschwerden vom Druiden. Dann fragen wir Asterix, wer denn am ehesten ihm und Obelix zutraute, dass sie eine sinnvolle Verwendung ihrer Kräfte entwickeln könnten, auch wenn sie nicht durch Schiedsrichterrollen oder Kämpfe mit den Römern beschäftigt wären. Es zeigt sich, dass von den Anwesenden nur der Druide sich so etwas vorstellen kann. Dieser meint, Asterix und Obelix müssten sich dazu etwas von dem durch vielfältige Veröffentlichungen über sie und ihre Taten entstandene Heldenbild lösen, welches ihnen zum Lebenselixier geworden sei. Er sei nicht sicher, ob sie dies zustande brächten, wenngleich er es vom medizinischen Standpunkt und vom Standpunkt des friedlichen Zusammenlebens im Dorf her begrüßen würde. Wir fragen den Häuptling, ob es denn solche Entwicklungen im Leben der Dorfgemeinschaft schon einmal gegeben habe, und erfahren, dass während einer längeren Ruhepause mit den Römern Asterix und Obelix ein gemeinsames Hinkelstein-Handelsunternehmen gegründet hätten und wegen guten Geschäftserfolgs zunehmend außerhalb des Dorfes gewesen seien. Ein überraschender Angriff der Römer habe damals das Dorf in arge Bedrängnis gebracht. Kurz danach sei trotz guter Auftragslage dieses Unternehmen daran Konkurs gegangen, dass Asterix und Obelix sich auf Grund starken Heimwehs, das sie auf Handelsreisen befiel, nicht mehr lange außerhalb des Dorfes aufhalten konnten. Durch häufige Streitereien mit den Römern, die mehrmals auch von der Dorfgemeinschaft initiiert wurden, seien Asterix und Obelix dann ohnehin unabkömmlich gewesen. Und das Dorf habe eigentlich eine vergnügliche Zeit gehabt, bis jetzt die Friedensbewegung bei den Römern die politische Oberhand gewonnen habe.
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