Ausgehend von der Definition von Coaching als personenbezogenem Beratungsprozess will ich im Folgenden ausloten, welche gestalttherapeutischen Modelle und Ansätze sich handlungsleitend auf diese Form der Einzelberatung anwenden lassen, um so ein Konzept von »GestaltCoaching« zu entwickeln. Dabei geht es mir weniger um die »typischen« oder »klassischen« Interventionsmethoden der Gestalttherapie, um deren Herkunft im Einzelnen man zudem streiten kann und deren Anwendung allein noch keine »Gestalttherapie«, respektive GestaltCoaching, macht. Als ›roter Faden‹ dient mir der idealtypische Ablauf eines Coaching-Prozesses, in dessen Verlauf verschiedene Fragestellungen auftauchen. Davor gilt jedoch der Satz »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie«. 22Das heißt, auch praxisorientierte Überlegungen sind zunächst theoretische Überlegungen. Bevor die Praxis zur Figur werden kann, ist es unerlässlich, sich mit dem theoretischen Hintergrund zu beschäftigen und einige Grundbegriffe und -konzepte der Gestalttherapie kurz zu erläutern.
Theoretischer Hintergrund
Reality is nothing but
The sum of all awareness
As you experience here and now.
The ultimate of science thus appears
As Husserl’s unit of phenomenon
And Ehrenfeld’s discovery:
The irreducible phenomenon of all
Awareness, the one he named
And we still call
GESTALT. 23
Das zu ihrer Zeit Neue und Radikale an der Gestalttherapie war ihr Abschied vom Verständnis des Individuums als einer in sich abgeschlossenen Einheit, die »ist«. Stattdessen sprachen Perls und Goodman von einem fortlaufenden Prozess der »Interaktion zwischen dem Organismus und seiner Umwelt«, die sie als Organismus-Umweltfeld bezeichneten:
»Es ist beispielsweise nicht sinnvoll, von einem atmenden Lebewesen zu sprechen, ohne Luft und Sauerstoff als Teil der Definition zu berücksichtigen, oder vom Essen ohne Erwähnung der Nahrung (…) oder vom Reden ohne Kommunikationspartner. Es gibt keine einzige Funktion irgendeines Lebewesens, die ohne Beteiligung von Objekten und Umwelt wirksam wird, ob man die vegetativen Funktionen wie Nahrung oder Sexualität, oder die Wahrnehmungsfunktionen, oder motorische Funktionen, oder Gefühle, oder das Denken selbst im Auge hat. (…) Wir wollen diese Interaktion zwischen Organismus und Umwelt bei jeder Funktion das »Organismus/Umweltfeld« nennen. Und wir sollten daran denken, dass es sich immer um solch ein Interaktionsfeld handelt, auf das wir uns beziehen, nicht auf ein isoliertes Lebewesen (…)« 24
Der »Ort«, an dem diese Interaktion stattfindet ist die »Kontaktgrenze«, die allerdings weniger das Innen von einem Außen trennt, sondern eher wie ein »Organ der Bewusstheit« 25zu verstehen ist.
Der von Perls und Goodman verwendete Feldbegriff geht auf Kurt Lewin zurück, der mit »Feld« die Wechselbeziehungen in einem bestimmten soziokulturellen, biologischen oder physischen Wirkungsgefüge bezeichnete.
»Der menschliche Organismus und seine Umwelt haben natürlich nicht nur physische, sondern auch soziale Aspekte. Deshalb müssen wir bei jeder humanwissenschaftlichen Untersuchung (…) von einem Feld sprechen, in dem zumindest soziokulturelle, biologische und physische Faktoren interagieren.« 26
Mit Hilfe des Konzepts vom Organismus-Umweltfeld als Metapher für Erfahrung lässt sich beschreiben, wie der Mensch ›am Du zum Ich wird‹, 27wie sich eine Person zur Umwelt in Beziehung setzt und durch diesen Prozess sich selbst, wer er/sie in diesem Moment ›ist‹, erschafft. Erst durch die Unterscheidung von einem »Ich« zu »Nicht-Ich«, respektive einem »Wir« und »Nicht-Wir« kann das »Ich« erlebt, erfahren und in der Selbstreflexion beschrieben werden.
Interaktionsfeld heißt, dass sich Organismus und Umwelt gegenseitig beeinflussen und diese Funktionen und ihre Wechselwirkungen können, gewissermaßen von außen, untersucht und beschrieben werden. 28
Den Prozess der jeweiligen Erfahrung ›im Feld‹ und die Dynamik der menschlichen Wahrnehmung, ja die »grundlegende Dynamik unseres Bewusstseins« 29beschreibt das Konzept von Figur und Hintergrund: Vor einem diffusen, formlosen Hintergrund wird eine Figur des Interesses bewusst. Diese Figur
»entspricht einer klaren, lebhaften Wahrnehmung, einem Bild oder einer Einsicht; (…) Die Figur/Hintergrundbildung ist ein dynamischer Prozess, bei dem Notwendigkeiten und Ressourcen des Feldes die dominante Figur fortlaufend mit Interesse, Leuchtstärke und Kraft versorgen. Es ist daher sinnlos, sich mit einem psychologischen Verhalten zu beschäftigen, ohne den soziokulturellen, biologischen und physischen Kontext zu berücksichtigen. Gleichzeitig ist die Figur in besonderer Weise auch psychologischer Natur: Sie besitzt beobachtbare Eigenschaften von Glanz, Klarheit, Einheitlichkeit, Faszination, Anmut, Kraft, Freiheit usw., je nachdem, ob wir es vorwiegend mit Wahrnehmungs-, Gefühls- oder Bewegungskontexten zu tun haben.« 30
Das, was als momentan relevant in den Fokus der Aufmerksamkeit kommt, sind Unterschiede im Feld. »Was ständig vorhanden ist, immer gleich bleibt oder indifferent ist«, 31wird eher nicht zur Figur, oder, um eine Definition von Gregory Bateson zu zitieren, zur Figur wird eine Information, also ein Unterschied, der einen Unterschied macht. 32Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen, eine Figur kann sich klar und deutlich vor einem diffusen Hintergrund abheben, sie kann ihrerseits verschwommen und unklar sein, es können sich mehrere Figuren gleichzeitig anbieten und der Prozess der Figurbildung kann abbrechen und unvollständig bleiben.
Zwischen Hintergrund (all dem, was der Organismus in seinem Umweltfeld wahrnehmen kann) und Figur (dem, was tatsächlich wahrgenommen wird) besteht ein, wie Martina Gremmler-Fuhr es nennt, »sensibles und komplexes Wechselspiel«, 33in dem sich beide gegenseitig bedingen: Einerseits beeinflussen unsere »Bedürfnisse« (Ideen, Ziele, Impulse, körperliche Empfindungen) unsere Wahrnehmung, andererseits lässt das, was wir wahrnehmen, Bedürfnisse, Ideen, Impulse etc. entstehen. Wird »Hunger« bewusst, geraten Supermärkte oder Restaurants in den Fokus, die ansprechend dekorierte Auslage eines Geschäfts kann appetitanregend wirken.
Ein weiterer zentraler Aspekt des Figur-Hintergrund-Konzepts ist das, was auch als Kontextabhängigkeit der Wahrnehmung beschrieben wird: der Prozess der Bedeutungsbildung. Die Bedeutung einer Figur entsteht durch ihren Hintergrund und kann sich somit verändern. Wie so etwas visuell geschieht, kann man an Kipp-Bildern unmittelbar nachvollziehen, auf denen man z. B. entweder eine alte oder eine junge Frau, einen Eskimo oder ein Gesicht oder, als Antwort auf die Frage »What’s on a man’s mind?« entweder das Profil von Sigmund Freud oder eine nackte Frau sieht. Das Verhalten einer Seminargruppe, die sich Kopien eines Artikels nimmt, der nicht für sie bestimmt ist, kann als unbotmäßig und frech gedeutet werden oder als neugierig und interessiert. Je nach Bedeutung und Bewertung, die dem Verhalten gegeben wird, wird sich der Seminarleiter verhalten, also seine Handlung daran ausrichten. Auslöser für Handlung ist immer die Bedeutung, die dem Wahrgenommenen gegeben wird. 34
Den Begriff »Gestalt« verwendet die Gestalttherapie erkenntnistheoretisch für den menschlichen Erfahrungsprozess an sich und bezieht sich dabei auf die Ergebnisse der Gestaltpsychologie und der Gestalt-Theorie. 35Der Gestaltpsychologe Christian von Ehrenfels hatte in einem 1890 erschienenen Text über »Gestaltqualitäten« demonstriert, dass Menschen das, was sie wahrnehmen, zu für sie sinnvollen Einheiten gewissermaßen gruppieren. Wahrgenommen wird nicht, indem die Abfolge oder Ansammlung einzelner Reize oder Elemente einer objektiven Wirklichkeit zerlegt und wieder zusammengesetzt werden, sondern in Ganzheiten. Diese Ganzheiten nannte er »Gestalten.« Kurz gesagt erschaffen wir unsere Wirklichkeit, indem wir Gestalten bilden. Wie wir das tun, beschreiben zum einen der Prozess der Bildung und Auflösung von Figur und Hintergrund und zum anderen der Kontaktzyklus.
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