In 16,6 ist es Gott selbst, der bei seinem Vorübergang das Findelkind sieht:
- „da sah ich dich zappelnd in deinem Blut.“ Das Sehen läßt hier vordergründig die Not und Hilflosigkeit der als Findelkind angeredeten zukünftigen Braut erkennen. Damit wird das „Sehen“ hier ebenfalls zum Anlaß für eine Entscheidung, ein bestimmtes Handeln. Nur daß hier, wo es sich um die Gottheit selber als Subjekt des Sehens handelt, kein Entscheidungszwang vorliegen kann, sondern reine Entscheidung in Freiheit. Was Gott dabei an-“sieht“ ist hier noch nicht Sünde oder verkehrtes Verhalten, sondern das Elend und die Verlassenheit. Vielleicht sieht er aber auch in seinem erwählten Geschöpf etwas von den innerlich angelegten Möglichkeiten. Das An-Sehen wird dabei zum Anlaß einer Berufung. Gott beobachtet mit seinem Sehen die weitere Entwicklung in V. 8:
- „da ging ich an dir vorüber und sah dich, und siehe deine Zeit, die Zeit der Liebe.“ Gott sieht erneut die durch die Metapher „Liebe“ angedeuteten Möglichkeiten, die dem Entwicklungsstadium der jungen Frau entsprechen. In Ez 23,13 geschieht es ihm mit Oholiba, der Schwester von Ohola:
-“da sah ich, daß sie sich verunreinigte“. Ein Sehen, das den wahren Zustand und die dadurch zerstörte Beziehung offenbart und damit die Ankündigung und Rechtfertigung des Gerichts vorbereitet.
Eine scheinbar neutrale Stelle findet sich in 19,11. Von dem Weinstock, der unmittelbar vorher mit der wahrscheinlich das Königshaus Juda vorstellenden Löwenmutter identifiziert wurde, heißt es hier:
- „da wurde er gesehen bei seiner Höhe und bei der Menge seiner Zweige.“ Gleich im Anschluß wird V. 12 ohne weitere Begründung das Gericht an diesem gut gediehenen Weinstock vollzogen. Da der Umschlag von Aufstieg und Fall so abrupt erfolgt, schwingt auch hier in der Bedeutung nachträglich so etwas wie das Sichtbar -Werden von Hochmut mit. Gesehen-Werden hat etwas mit Preisgabe, Sich-Aussetzen, Risikobereitschaft zu tun. Wie das aktive Sehen eine Entscheidung ermöglicht und herausfordert, so fordert das Sich-Zeigen, Sich-Sehen-Lassen das Schicksal heraus.
Unter den Vergleichsstellen im Ezechielbuch sind es folgende Stellen, an denen das Sehen das Wahrnehmen und Erkennen von etwas Schlechtem, Sündhaftem beschreibt. Die erste Stelle in 12,3 ist etwas zweifelhaft und daher nicht in die Tabelle mit aufgenommen worden. Der Prophet wird aufgefordert, das noch einem Teil der Verbliebenen bevorstehende Schicksal der Verbannung in einer Symbolhandlung vorzuführen.
- gewöhnlich übersetzt als „vielleicht sehen sie, denn sie sind ein widerspenstiges Haus“. „Sehen“ bezöge sich dann vordergründig auf die Symbolhandlung als Objekt. Die Betonung der Widerspenstigkeit des Volkes wäre eine Einschränkung, die das „vielleicht“ zu Beginn rechtfertigt. Im Sinne von: „Vielleicht sind sie so widerspenstig, daß sie nicht einmal …“ Man könnte das
hier aber auch als Einleitung eines Objektsatzes verstehen und dann übersetzen: „Vielleicht sehen sie, daß sie ein widerspenstiges Volk sind.“ Dann würde hier die Form von
ein Sehen bedeuten, das ein Einsehen, ein Erkennen auf dem Weg zur richtigen Selbsterkenntnis ist. Parallelen zu ähnlichen Stellen wie Ez 4,27 möchten die Ursache sein, warum diese Stelle wahrscheinlich von noch keiner Übersetzung als Objektsatz aufgefaßt wurde.
Sehr merkwürdig ist die Stelle in 21,29. Als Begründung für das angedrohte Gericht heißt es dort:
„Daher, so spricht der Herr, JHWH, weil ihr denken laßt an eure Fehler, wenn eure Übertretungen offenbar werden, so daß die Sünden an all euren Taten gesehen werden, weil eurer gedacht wird, werdet ihr handgreiflich gefaßt werden.“
Es genügt offensichtlich nicht, nur vom Gesehenwerden der Handlungen zu sprechen, es muß noch eine besondere Qualität an diesen Handlungen unterschieden werden, die sie erst zu Sünden macht und für die es darum eine tiefergehende Wahrnehmung braucht. Das Gericht wird durch den König von Babylon vollstreckt, der eine Leberschau vornehmend vorgestellt wird, die ihm den nächsten Zielpunkt für sein Heer zeigen soll. Das judäische Königshaus schien sich darauf zu verlassen, daß ein heidnischer Herrscher wie der König von Babylon nur ein falsches Orakel bei einer solchen Leberschau erhalten könnte. Doch auch ein solches kann Gott dazu dienen, die Sünden des eigenen Volkes zu offenbaren und damit zu strafen.
An den Stellen 19,11 und 21,29 ist das Subjekt des Sehens anonym. Man darf zwar annehmen, daß es letztlich Gott ist, der sieht , daß aber zugleich an eine unbestimmte Öffentlichkeit gedacht ist, die er als Zeuge für die Notwendigkeit eines Gerichtes in Anspruch nimmt, wie solches bei Gerichtsworten in ausdrücklicher Form - etwa als Anrufung der Berge, des Himmels, oder anderer stummer Zeugen der Natur - nicht selten ist.
In 23,14 ist es ein bestimmtes Sehen, das Oholiba zur Versuchung wird:
- „da sah sie Männer geritzt auf die Wand, Bilder der Chaldäer“. Die Formulierung erinnert mit den geritzten Bildern an die Tempelvision in Kap. 8.
Ez 20,28 ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie bei Ezechiel das Sehen oft einer in freier Entscheidung gewählten Handlung vorangeht:
- „da sahen sie jeden erhöhten Hügel und jeden belaubten Baum und opferten dort ihr Opfer.“ Dabei könnte es sich um einen Rückbezug auf Dtn 12,13 handeln, wo das Opfern verboten wird
- „an jeder Stätte, die du siehst“. Doch hier ist das Sehen nur in einem angehängten Relativsatz enthalten und bräuchte nicht unbedingt ursächlich für das falsche Handeln zu sein. Anders dagegen bei Ez 20,28, wo ähnlich, wie in den Beispielreihen von Kap. 8, das Sehen im Hauptsatz den nachfolgenden Handlungen bewußt vorangestellt wird, um so deutlich zu machen, daß es für sie zum Anlaß wird. 107Daß die Stelle also, auch wenn sie wirklich auf Dtn 12,13 zurückweisen sollte, im Sinne des im Ezechielbuch herrschenden Verständnisses vom Sehen umgeformt worden ist, scheint offensichtlich.
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