Nach Hahn und Bergsma könnte auch eine bewußte Anlehnung an deuteronomischen Sprachgebrauch vorliegen, um so den Gegensatz zur Gesetzgebung des Dtn fühlbarer werden zu lassen. Mit den „unguten Gesetzen“ in V. 25 würde dann gerade auf diese Gesetzgebung angespielt, die sich aufgrund des laxeren Verhältnisses zum Kult vom Heiligkeitsgesetz unterscheidet. Der Gebrauch des Lokaladverbs „dort“ diene dazu, Beziehung und Gegensatz deutlich zu machen. 108
Allen genannten Vorkommen ist gemeinsam, daß das „Sehen“ einer persönlichen Entscheidung vorausgeht, einer Entscheidung, die immer eine Entscheidung für oder gegen etwas oder Jemanden ist. Dabei werden verschiedene Möglichkeiten ausgeschöpft. Es kann die Entscheidung Gottes sein, mit seinem Volk einen Bund zu schließen, es kann die Entscheidung zur Fällung oder Aussetzung eines Gerichtsurteils sein, es kann auf Seiten der Gläubigen die Entscheidung für oder gegen schlechte oder gute Beispiele sein. Gott selbst bleibt als der allsehende, immer zugleich der Unsichtbare, der nicht gesehen werden kann, von dem man sich kein Bild machen kann. Daran ändert auch die großartige Vision der Gottesherrlichkeit nichts, die dem Propheten geschenkt wird, aber nie Gott selbst unmittelbar sehen läßt. Die Beziehung zu ihm wird daher nie durch das rein natürliche Sehen als solches hergestellt oder erhalten, wohl aber durch ein kontrolliertes Sehen, das nicht allen Eindrücken nachgibt und Raum läßt für jene Wirklichkeit, die über das Sichtbare hinausgeht. Das ist allerdings ein Sehen, das an tiefere, verborgene Schichten dieser Wirklichkeit teilhaben läßt. Ein Sehen, das von der äußeren Tatsächlichkeit getroffener Entscheidungen „ab“-sieht und statt dessen „hin“-sieht auf jenen geistig sittlichen Bereich der Freiheit, in dem Entscheidungen erst getroffen werden müssen.
Weitet man den Blick über das Ezechielbuch hinaus, so bietet sich der weisheitliche Gebrauch der Wurzel bei Kohelet als Parallele an. Bei ihm ist sie die umfassende Wahrnehmungsart, mit der der Weise zu seinen Lebenserfahrungen kommt, um sie zu sammeln und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Am programmatischen Vers 1,14 läßt sich diese Tendenz ablesen:
- „Ich sah alle Taten, so unter der Sonne getan wurden. Und siehe: Das alles ist Windhauch und Weben der Luft.“ Auch hier bereitet das Sehen den Boden für etwas anderes. Nur daß dieses Andere keine freudige Entscheidung zur Tat ist, sondern ein resignierter Weisheitsschluß.
Man könnte vier Stufen unterscheiden in dem durch das Sehen ermöglichten Wandlungsprozeß nach Ez:
1. Das Sehen, das ein bestimmtes Urteil unumgänglich macht.
2. Reflexion über Behinderung oder Erleichterung eines rechten Sehens.
3. Die Veränderung einer bestimmten Verhaltensweise oder Einstellung, die das Urteil herausfordert.
4. Die rechte Gotteserkenntnis als höchstes Ziel.
In 8,12 ist von einem Nicht-Sehen die Rede: Gott sieht nicht die Sprechenden. Der Grund ist seine fehlende Gegenwart im Land. Diese macht sein Sehen unmöglich. Er kann nach Meinung der Sprechenden nicht sehen. Dieses Sehen bzw. Nicht-Sehen-Können ist im Verständnis der Sprechenden ein äußerlicher Vorgang, der die unmittelbare Gegenwart voraussetzt. Als Antwort auf diese Meinung der Sprecher kehren sich im Ezechielbuch im Gefolge die vermeinten Verhältnisse in ihr Gegenteil um. Nun ist es Gott, der alles sieht, weil er alles durchschaut, und im ez Sinne alles versteht. Das Nicht-Sehen in 12,6 drückt symbolisch die Blindheit des Fürsten und mittelbar auch des ganzen Volkes aus. Das Volk sieht nicht, weil es nicht versteht, und, wenn man Odell folgt, in gewisser Weise auch nicht gegenwärtig ist, indem es sich hinter Ersatzriten zurückzieht, um auch einer persönlichen Entscheidung auszuweichen, wie sie aus einem richtigen Sehen erfolgen müßte.
Das Interessante hierbei ist, daß Sehen und Verstehen in eine besondere Beziehung zum Land gesetzt werden. Für die Sprecher der Redensart in 8,12 ist die Gegenwart Gottes im Land Bedingung und Voraussetzung für das Sehen und Wahrnehmen des religiösen Kultes. Durch die prophetische Antwort wird auch dieses Verhältnis umgekehrt: Das Sehen und Begreifen der eigenen Schuld, sowie die Einsicht in das einzig wahre Gottesverhältnis wird zur Voraussetzung für die Rückkehr ins Land und den wesentlichen - nicht bloß zufälligen - von Gott gewährten Besitz des Landes. Was erst Voraussetzung war - die Gegenwart im Land - wird selbst, auch für das Volk, infrage gestellt, und muß seinerseits erst Ziel und Gegenstand einer Neu-Vergewisserung werden, die durch neu erlerntes Sehen und Verstehen ermöglicht wird.
1. f) Die Sinnkrise des Volkes
Die Ältesten reihen sich mit ihrem bemerkenswerten Spruch in eine Folge unterschiedlicher Situationen und Vorgänge ein, an denen ganz unterschiedliche Menschen beteiligt sind. Nur die
- „die Ältesten des Hauses Israel“ erhalten eine Bezeichnung, die historisch einzuordnen ist. Ob aber wirklich mit ihnen an eine bestimmte historische Gruppe gedacht ist, bleibt trotzdem fraglich.
Die einzige mit Namen genannte Person unter ihnen, Jaasanja, Sohn Schafans, ist nicht ermittelbar. Die weinenden Frauen, wie die 25 Männer mit dem Rücken zum Tempel, die auf die Ältesten folgen, bleiben jeweils anonym. Das Götzenbild am nördlichen Eingang, das vorher erwähnt wird, steht für sich allein ohne anwesende Personen. 109Historisch verifizierbare Angaben sind also in der Komposition so gut wie nicht enthalten, 110oder wenigstens schwer nachweisbar.
Es konnte ein mit der Ältesten-Gruppe verbundener Bezug zur Sinai-Offenbarung und zum Ruf des Mose nach einem prophetischen Volk wahrscheinlich gemacht werden. Das Exil wird damit indirekt mit der Wüstenwanderung verglichen. Das Verhalten der Ältesten führt exemplarisch vor Augen, wie weit das Volk noch von dem Ideal eines solchen prophetischen Volkes entfernt ist und damit von der Möglichkeit eines zweiten Exodus. Auf der anderen Seite soll eben gerade diese Möglichkeit allmählich vorbereitet werden.
Mit Hilfe von Bildern und Szenen in einer dichterisch kunstvoll ausgearbeiteten Komposition bringt der Prophet zur Anschauung, wieviel Widersprüchlichkeiten und Unwahrhaftigkeiten in der Anhänglichkeit an den Tempel zusammenkommen können. Diese durch den Tempel vermittelte Gottesbeziehung also, die zwar geschichtliche Vorgänge begleitet, aber nicht unmittelbar an ihnen ablesbar ist, ist dasjenige Element, worin die Sprechersituation am ehesten zu suchen ist. Der Tempel ist auch der „Ort“, an dem das Gericht beginnt, um von dort weiter auszustrahlen (9,6). Der Wechsel von Haus Israel (8,11 u. 8,12) zu Haus Juda (8,17), sowie ihre gemeinsame Nennung in 9,9 läßt sich am ehesten als das literarische Stilmittel erklären, durch komplementäre Ergänzung die Gesamtheit des Volkes hervorzuheben. Im 11. Kapitel wird die Erzählung zumindest dem Anschein nach historischer.
Das einzige Gewisse, was gesagt werden kann, ist, daß Ezechiel exemplarische Verhaltensweisen des Volkes durch die Vision in räumlicher Nähe zum Tempel geschehen läßt. Bei einer so vorsichtigen Formulierung bleiben verschiedene Möglichkeiten gewahrt. Das exemplarische Verhalten läßt sich sowohl als einheitlicher Ritus, als auch als Abfolge einzelner völlig selbständiger Handlungen verstehen. Neben der häufig genannten Möglichkeit, daß Ez in Jerusalem geschehene Dinge durch die Vision mit dem Exil verbindet, ist auch grundsätzlich mit der weniger oft genannten Möglichkeit zu rechnen, daß er Exilserfahrungen (Tammuz-Verehrung!, sonst nirgendwo im AT erwähnt) nach Jerusalem projiziert.
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