Von besonderem Interesse ist dabei, wie Hans Urs von Balthasar den Begriff „Gestalt“ in theologischer Perspektive verwendet. 266Zu beachten ist, dass es ihm dabei „nicht um eine Ästhetisierung der Theologie“ geht, „sondern um die Ausarbeitung einer theologischen Wahrnehmungslehre. […] Die Haltung ehrfürchtigen Staunens, die bereit ist, ein Phänomen spontan aufzunehmen, liefere eher eine Analogie dafür, wie man sich der Offenbarung zu nähern habe. Balthasar setzt ganz auf das Vermögen rezeptiver Spontanität: Wer im Glauben die geschichtliche Offenbarungsgestalt der Liebe Gottes ‚erblicke‘, der werde über sich hinausgezogen, gleichsam ekstatisch ‚entrückt‘.“ 267Er selbst formuliert es in prägnanter Kürze so: „Das Hauptpostulat meines Werkes ‚Herrlichkeit‘ war die Fähigkeit, eine ‚Gestalt‘ in ihrer zusammenhängenden Ganzheit zu sehen: der goethesche Blick sollte auf das Phänomen Jesu und die Konvergenz der neutestamentlichen Theologien angewendet werden.“ 268So wird für Baltasar der Gestaltbegriff zum zentralen Moment an seiner theologischen Ausrichtung: „Ich studierte in Wien nicht Musik, sondern vor allem Germanistik, und was ich dort lernte, war das, was sich später in meinem theologischen Schrifttum ins Zentrum stellte: Das Erblicken-, Werten- und Deutenkönnen einer Gestalt, sagen wir: den synthetischen Blick (im Gegensatz zum kritischen Kants, zum analytischen der Naturwissenschaft), und dieses Gestaltdenken verdanke ich dem, der nicht abließ, aus dem Chaos von Sturm und Drang auftauchend, lebendige Gestalt zu sehen, zu schaffen, zu werten: Goethe. Ihm danke ich dieses für alles Hervorgebrachte Werkzeug.“ 269Hans Urs von Balthasar greift somit entschieden auf Goethe 270zurück, um seinen Gestaltbegriff im Bereich der Theologie zu entwickeln. 271In einem Interview spricht er ausdrücklich von dieser Wahl: „Rahner hat Kant oder, wenn Sie wollen, Fichte gewählt, den transzendentalen Ansatz. Und ich habe Goethe gewählt, als Germanist. Die Gestalt, die unauflöslich einmalige, organische, sich entwickelnde Gestalt – ich denke an Goethes ‚Metamorphose der Pflanzen‘- diese Gestalt, mit der Kant auch in seiner Ästhetik nicht wirklich zu Rande kommt.“ 272
Auch Edith Stein bezieht sich wiederholt in ihren Publikationen auf Goethe 273und stellt in ihren philosophischen Studien Betrachtungen über Naturphänomene an 274, zu denen sie von der Phänomenologin und langjährigen Weggefährtin Hedwig Conrad-Martius inspiriert ist. 275Eine auffällige Parallele zwischen der Frau aus Breslau und dem Weimarer Literaten. Für die Fragestellung dieser Studie bleibt festzuhalten, dass der Zugang zur Gestalt ihres Betens über den von Balthasar theologisch formulierten Gestaltbegriff Edith Stein insofern angemessen ist, als beide wesentliche Anregungen von Goethe erhalten haben. Von daher ergibt sich eine gemeinsame Wurzel der beiden germanistisch gebildeten und in philosophisch-theologischer Perspektive an Fragen des Seins interessierten Geistesgrößen Edith Stein und Hans Urs von Balthasar.
Bei Balthasar fungiert nun der Gestaltbegriff als theologische Aussageform dazu, Momente am christlichen Offenbarungsgeschehen so ins Wort zu bringen, dass der kommunikativ-dialogische und fortschreitende Charakter von Offenbarung als religiöser Erfahrung des Menschen einsichtig wird und zudem der Zusammenhang zwischen („schöner“) Form und Gegebenheitsweise des Begegnendem und dessen („wahrem“) Inhalt. 276Ein religiöses Geschehen kann somit unter der Hinsicht auf seine Gestalt sowohl in seinem Verlauf als auch hinsichtlich seiner inneren Zielrichtung zur Sprache kommen, bei der Form und Inhalt aufs engste zusammen gehören. Letzteres wird von Hans Urs von Balthasar umfassend versucht im Rahmen seiner für ihn typischen Arbeitsmethode. Peter Henrici skizziert diesen theologischen Stil, der in den Werken Balthasars immer aufs Neue zur Anwendung kommt: „Der dichte kulturelle Hintergrund und seine Herkunft aus der Germanistik bestimmten B.s unverwechselbare (u. unnachahmliche) theol. Methode: Die einfühlende Darstellung und Deutung großer Gestalten der Trad. wie der Ggw. macht diese durchsichtig auf das Christlich-Wesentliche hin, während dieses Wesentliche umgekehrt immer nur in der Spiegelung in Texten und Gestalten faßbar wird – ‚das Ganze im Fragment‘.“ 277Henrici kann daher zusammenfassend feststellen: „Ihrer Inspiration und Herkunft nach könnte man B.s Methode als theol. Phänomenologie bezeichnen.“ 278
Im Rückblick auf die Entfaltung des ersten Teils seiner mit „Herrlichkeit“ betitelten dreibändigen theologischen Ästhetik kommt Balthasar im dritten Band resümierend auf den Begriff der Gestalt zu sprechen. 279Ausgehend von der Vielfalt menschlicher Erfahrungen, die sich in großen Beispielen der Weltliteratur spiegeln, führt er aus: „Hier wo in verschiedenen Graden der Deutlichkeit das je Ganze des Seins am einzelnen Seienden aufleuchtet, bietet sich der Begriff der Gestalt an. Er meint eine als solche erfaßte, in sich stehende begrenzte Ganzheit von Teilen und Elementen, die doch zu ihrem Bestand nicht nur einer ‚Umwelt‘, sondern schließlich des Seins im ganzen bedarf und in diesem Bedürfen eine (wie Cusanus sagt) ‚kontrakte‘ Darstellung des ‚Absoluten‘ ist, sofern auch sie auf ihrem eingeschränkten Feld seine Teile als Glieder übersteigt und beherrscht.“ 280Mit Bezug auf Goethe und dessen Verständnis von Erhabenheit fährt Balthasar fort: „Alles begegnende Wirkliche ist in analogischen Abstufungen gestalthaft, wobei die ‚Höhe der Gestalt‘ beurteilt wird nach der größeren Macht der Einheit, gleiche Mannigfaltigkeit zu versammeln (Ehrenfels), aber alle geistig erblickbaren Gestalten über sich auf das vollständige und vollkommene Sein verweisen, das nach Goethe ‚von uns nicht gedacht werden kann‘. Das Licht, das aus der Gestalt bricht und sie dem Verstehen öffnet, ist somit untrennbar Licht der Form selbst (die Scholastik spricht deshalb vom splendor formae) und Licht des Seins im ganzen, worin die Form badet, um überhaupt einshaft Gestalt haben zu können. Mit der Immanenz steigt die Transzendenz. Ästhetisch gesprochen: Je höher und reiner eine Gestalt, desto mehr bricht das Licht aus ihrer Tiefe hervor und desto mehr verweist sie auf das Lichtgeheimnis des Seins im ganzen. Religiös gesprochen: je geistiger und selbständiger ein Wesen ist, um so mehr weiß es in sich um Gott und umso klarer verweist es auf Gott.“ 281Mit Blick auf die bibilische Offenbarung, die in der Menschwerdung gipfelt, weist Balthsar schließlich hin auf die der einzelnen Gestalt innewohnende Dimension des Verweisens über sich hinaus: „Somit bedient sich das absolute Sein, um sich in seiner unergründlichen personalen Tiefe kundzutun, der Weltgestalt in ihrer Doppelsprache: unaufhebbarer Endlichkeit der Einzelgestalt und unbedingtem, transzendierendem Verweis dieser Einzelgestalt auf das Sein im ganzen.“ 282Das erscheinende Phänomen ist dabei zugleich gelichtet und bleibt doch dem integrierenden, sich eneignenden Verstehen entzogen. Es kann vom erkennenden Subjekt nicht eingeholt werden, da es ihm mit der Qualität eines „Wunders“ begegnet. Das gilt in verdichteter Form von der personalen Begegnung: „Eine mir geschenkte Liebe kann ich je nur als ein ‚Wunder‘ verstehen, empirisch oder transzendental aufarbeiten kann ich sie nicht, auch nicht aus dem Wissen um die gemeinsam umgreifende Menschen – ‚Natur‘; denn das Du ist der je Andere mir gegenüber. Der zweite Ansatz liegt im Ästhetischen, das neben Denkhaltung und Tathaltung eine dritte, nicht rückführbare Späre darstellt. Bei Erfahrungen ausgezeichneter Schönheit – in Natur wie in Kunst – wird das sonst mehr verhüllte Phänomen in seiner Unterscheidbarkeit greifbar: Was uns entgegentritt, ist überwältigend wie ein Wunder und darin vom Erfahrenden niemals einzuholen, besitzt aber gerade als Wunder eine Verstehbarkeit: es ist fesselnd und befreiend zugleich, wie es sich unzweideutig als ‚erscheinende Freiheit‘ (Schiller) von innerer unbeweisbarer Notwendigkeit gibt.“ 283
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