Zudem stellt das, was in Begriffen davon ausgesagt werden kann, unvermeidlich eine Reduktion dar, bei der ein größeres Ganzes mit intellektuellen, affektiven, und körperlichen Aspekten tendenziell auf das Intellektuell-Begriffliche enggeführt wird, das überdies immer erst nachträglich zum Geschehen entstehen kann. In diesem Sinne kommt jede Definition immer ‚zu spät‘ und schränkt grundlegend ein. Eine solche ‚Definition‘ bliebe hinter dem lebendigen Geschehenszusammenhang unvermeidlich um ganze Dimensionen zurück. Als wesentliches Problem der Frage, was unter „Beten“ verstanden werden kann, zeigt sich, dass stets nur ein Teil des Geschehenszusammenhangs in den Bereich des Sichtbaren und dem Intellektuellen Zugänglichen gelangt. Zudem tritt dieser Ausschnitt dem verstehenden Interesse des Menschen unvermeidlich zeitlich versetzt und nachträglich vor Augen, zu einem Zeitpunkt, da das betende Geschehen schon längst im Gange oder schon vorüber ist und der sich nunmehr als Betende erkennende Mensch auf ihm nicht bewusste Weise schon tief affiziert ist vom göttlichen Gegenüber. Kürzer gesagt: Wo der betende Mensch nach Begriffen sucht für das, was ihm widerfährt, dort ist er schon lange erfasst von dem, was in seinem Inneren die Wahrnehmung, das Denken, Fühlen und körperliche Sein angeht und schließlich bis zur manifesten Sichtbarkeit umgestaltet. Die zweite Schwierigkeit einer begrifflichen Klärung dessen, was „Beten“ meint, besteht somit darin, dass die Begriffe nur einen Ausschnitt des Ganzen zu repräsentieren vermögen, der zudem nur zeitlich versetzt als nachträgliche Systematisierung möglich ist.
4.1.3 Zweite Annährung: Manifestationen im Sichtbaren
Die beschriebenen Schwierigkeiten einer Gebetsdefinition können den Blick dafür schärfen, dass bei einer beschreibenden Sichtung von Gebetsäußerungen zu keiner Zeit das Ganze des Gebets, sondern allein dessen sichtbare Wirkungen, dessen Konsequenzen auf der Außenseite ansichtig werden. Das betende Geschehen als momentan sich Vollziehendes ist somit prinzipiell stets „verhüllt“ und von der Qualität eines sich verbergend-erscheinenden Geheimnisses. Es ist streng genommen im Vollzug als Ganzes unsichtbar. Mit Blick auf Edith Stein und ihr geistliches Leben insgesamt bringt es ihre langjährige Weggefährtin und Freundin Hedwig Conrad-Martius so ins Wort: „Es ist keine leichte Aufgabe, über Edith Stein zu sprechen. Zunächst, weil es im letzten Grunde überhaupt unmöglich ist, über einen so gut wie ausschließlich religiös bestimmten Menschen zulängliche Aussagen zu machen. Das innerste Leben eines solchen Menschen liegt im Geheimnis Gottes.“ 245
Dass Beten von Entzogenheit geprägt ist, das gilt zunächst für den betenden Menschen selbst, der im Vollzug des betenden Grundaktes seiner Existenz danach sucht, wie er sich selbst verstehen kann. Erst recht gilt das für Außenstehende, zumal wo diese zeitversetzt dem betenden Ereignis im Leben eines anderen Menschen nahe treten wollen. Beten zeigt sich dem Denken somit nur indirekt und zeitversetzt in den sichtbaren Formen, die dessen leib-seelische Folgen sind: es erscheint im Modus des „Vorübergegangenen“. Diese Differenz bleibt stets zu beachten, nämlich zwischen einem im Ganzen radikal entzogenen Geschehen und dessen Manifestationen im Sichtbaren. Diese Differenz zu sehen, das ist für die Erkundung des Betens im Leben der Edith Stein aufschlussreich und kann vor Fehldeutungen bewahren.
Denn die sichtbaren Manifestationen sind einer empirischen Untersuchung und systematisierenden Deutung ihrer situierbaren Verlaufsformen umfassend zugänglich, das innere Gebetsgeschehen selbst jedoch nicht. Wo aber klar ist, dass die sichtbaren Äußerungen und das, was sich als geronnene Konsequenz des bereits geschehenden Vollzugs vernehmbar macht, nicht zu verwechseln sind mit dem persönlichen Begegnungsgeschehen in der Tiefe der menschlichen Psyche, dort öffnet sich der Blick dafür, dass ein und das selbe innerseelische Geschehen bei einem Menschen an biographisch verschiedenen Stationen höchst Unterschiedliches hervorbringen kann. Dann wäre es möglich, im geschichtlich Hochvariablen der Gebetsform und -häufigkeit ein Überdauerndes zu postulieren, das sich in je geschichtlich neuer Weise aktualisieren kann, ja sogar muss, da der Mensch sich je und je wandelt, ohne dabei an innerer Kontinuität verlieren zu müssen. Vielmehr wäre ein Wandel in der Ausdrucksform und eine Vielgestalt in jeweiligen Konkretisierungen betenden Geschehens zu werten als Moment an der Lebendigkeit des sich Zutragenden. Was sich je unterschiedlich am Beten erkennen lässt, das wäre zu verstehen als Entfaltung eines Organischen, von Gestaltwandel und Wachstum Geprägten. Vor dem Hintergrund des Gesagten wird eine dritte Annäherung an das, was mit ‚Beten‘ bedeutet wird, möglich. Diese Annäherung greift den geschichtlichen, relationalen Charakter des Gebetsgeschehens auf und entfaltet ihn als Ausdruck der Existenz des Menschen in seiner gottgegründeten und -orientierten Bezogenheit auf das Mehr- als-Menschliche im Kontext mit anderen. Beten erscheint darin als ein mit Relevanz erfülltes Geschehen, das andere ursprünglich zu berühren vermag, wo ihnen diese religiöse Praxis begegnet.
4.1.4 Dritte Annäherung: Verweischarakter der sichtbaren Seite als Spur
Wo sich einem Menschen das Gebetsgeschehen im eigenen oder fremden Leben von seiner Außenseite sichtbar zeigt und vor Augen stellt, dort bringt diese Erscheinung etwas nahe, was den Charakter einer Spur und eines mit Bedeutung gefüllten Verweises erkennen lässt. Der Beobachter eines betenden Menschen kann aus diesem Grunde im Prozess der Wahrnehmung keineswegs ein neutraler Betrachter bleiben, der gleichsam hinter der Glasplatte der distanzierten Erkenntnisbemühung unberührt bleiben könnte angesichts des existentiellen Geschehens, das bei einem anderen Menschen zu Gesicht bekommt. Vielmehr ist das Gegenteil davon eines der wesentlichen Charakteristika des betenden Grundaktes – dass es den Beobachter dieses Ereignisses zu einer sehr speziellen Form von Nähe führt, bei dem er selbst und sein Menschsein unvermeidbar mit in das Geschehen hineinragt, dessen er inne wird. Das berühmte Diktum Ludwig Wittgensteins „Gott kannst Du nicht zu einem anderen reden hören, sondern nur wenn Du der Angeredete bist“246, bringt die Konsequenz zum Ausdruck, die in dieser evozierenden Dynamik des Betens liegt. Es ist die Konsequenz, dass der Betrachter selbst von dem Geschehen angegangen ist, dessen er zunächst scheinbar nur neutraler Zeuge wird. Wo der Betrachter dann jedoch im anderen betenden Menschen (oder auch nachträglich seinen eigenen Gebetsmomenten) seine eigene Möglichkeit sieht, zu der er sich unvermeidbar selbst verhalten muss, da wird ein Prozess sichtbar, der den Betrachter in eine unabschließbare Begegnung mit dem Phänomen Gebet ‚hineinruft‘, die seine Freiheit gleichermaßen evoziert wie involviert. So könnte man sagen, dass die Gebetsmanifestationen gerade keine neutralen Vorfindlichkeiten sind, sondern vielmehr Ausdruck einer mit Relevanz berührenden Wirklichkeit, die werbend und zur Entscheidung drängend nahe tritt. Wo betendes Menschsein begegnet, da evoziert es in der Betrachterin und dem Betrachter die Frage, wie sie oder er selbst sich dem gegenüber verhalten soll . Warum ist dem so? Vorausblickend sei darauf hingewiesen, dass diese innere Virulenz betenden Menschseins, wo man den metaphysischen Verstehenszugängen Edith Steins folgen mag, darin gründet, dass erkannte und gelebte Wahrheit („verum“ et „bonum“) eine starke Ausstrahlung entfaltet, die man in einem grundlegenden Sinne als Attraktion mit ästhetischer Tiefe begreifen kann. Diese Attraktion ist ein Affiziertsein von einem „splendor“, einem Glanz 247, der ins Auge fällt als „pulchrum“. 248Wo dem Betrachter angesichts eines anderen betenden Menschen etwas von dieser Wahrheit einleuchtet, dort ist er von ihr zumindest angezogen und affiziert, auch wenn diese geistliche Radiation momentan ohne sichtbare Konsequenzen bleiben kann. Dass es gleichwohl werbenden Charakter hat, wo betendes Geschehen ins Blickfeld rückt, das liegt unabhängig von einer religiösen Begründung im engeren Sinne daran, dass jedwede erkannte Wirklichkeit anziehenden Charakter 249hat und das erkennende Subjekt „fasziniert“, insofern es sich als vom Gegenüber des Erkennens zu weiterer Erkenntnis eingeladen erfährt. 250Auf diese Dimension aller begegnenden Wirklichkeit als Gabe 251, deren Gestalt sich dem Menschen offenbart, hat Hans Urs von Balthasar mit Rückgriff auf den Gestaltbegriff Goethes hingewiesen. 252Da im Abschnitt 4.2.über den Gestaltbegriff davon noch ausführlicher die Rede ist, sei hier nur vorblickend darauf verwiesen.
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