» Wenn ist ein Wort mit vielen Bedeutungen. Erinnerst du dich an die Geschichte des Fischerjungen, der den Mond besitzen wollte?« Irena war inzwischen aufgestanden und hatte sich das schwarze Haar mit einem Tuch zurückgebunden. Ihre Hände waren makellos. Kein Kratzer, keine Schwielen, keine Verletzungen. Nur ab und an entdeckte man bei starkem Licht kleine Narben. Narben von früher, aus einer Zeit, in der Irena noch lernen musste, dass auch Masken ihren eigenen Willen hatten.
»Die Geschichte vom jungen Fischer, der alles besaß und alles hatte?«
»Genau diese Geschichte.« Irena nickte zufrieden und klopfte sich die Hände an dem schwarzen, langen Kleid ab, das sie trug. »Holst du die bestellte Ware ab? Ich fange derweil schon mal an.« Sie wartete erst gar nicht meine Antwort ab, sondern verschwand im Inneren des Hauses.
Ich dachte noch einmal über ihre Worte und die Geschichte vom Fischer nach.
Er hatte viele Freunde, eine Familie und ein wunderschönes Mädchen an seiner Seite. Seine Taschen waren gefüllt mit Geld und dennoch wollte er immer mehr. Er wollte ein Schloss wie das des Königs, er wollte ein Pferd so schnell wie der Wind, ein Huhn, das goldene Eier legte, und eine Schar an Dienern. Irgendwann, nach unzähligen Jahren, waren all diese Dinge in seinem Besitz. Er hatte wirklich alles und doch war es noch nicht genug. Er blickte hoch in den Himmel und sah den runden Mond dort hängen. Den Mond dort oben, den wollte er auch besitzen. Die Gier spiegelte sich in seinen Augen, und seine Freunde und seine Familie hatten bald Angst um den Fischer. Doch dieser ließ sich nicht beirren und jagte fortan den Mond. Er lief dem Mond entgegen, achtete nicht auf seine Schritte und den Weg zu seinen Füßen. Er war so versunken in seinen Gedanken, so voller Gier, dass der Fischer nicht bemerkte, dass er gerade einen Fluss durchquerte. Ehe er sich’s versah, da riss die reißende Strömung an seinen Kleidern und zog ihn hinab in die Tiefe des Wassers. Ja, dort lag er nun und starb eines einsamen Todes. Manchmal war alles einfach nicht genug.
Seufzend warf ich einen Blick hinüber zu dem Wald, der nicht weit von uns entfernt lag. Dichte Bäume versperrten mir die Sicht. Die Blätter raschelten im Wind. Irgendetwas Unheimliches ging von diesem Wald aus. Schnell schüttelte ich den Kopf, um meine Gedanken zu vertreiben, und machte mich auf den Weg hinab zu dem Dorf. Ja, manchmal war alles einfach nicht genug.
2
G eschichten waren es, die uns zum Leben erweckten, dank ihnen gerieten wir niemals in Vergessenheit. Sie belebten uns, ließen uns fühlen und träumen, verliehen uns unsichtbare Flügel, die uns hoch hinauf Richtung Himmel trugen.
Es war bereits später Abend, als ich mit der bestellten Ware vor dem Eingang des Hauses stand. Seufzend ließ ich den schweren Sack auf den mit Gras überwucherten Boden gleiten. Unsere Aufträge wurden immer weniger und trotzdem bestellte Irena dieselbe Menge bei den Händlern. Ihr Herz ließ es nicht zu, dass andere unter unseren schweren Zeiten litten. Innerlich hoffte ich, dass es wirklich nur schwere Zeiten waren, obwohl ich die Wahrheit eigentlich kannte.
Mein Blick glitt hoch zu den Sternen über uns. Schon als junges Mädchen hatten mich diese hellen Punkte auf der schwarzen Tapete fasziniert. Wie sie einfach da waren, so winzig und doch so wunderschön. Gern erinnerte ich mich an eines der ersten Märchen, das ich in meinem Leben gehört hatte, das Märchen über die Wünsche. In der Geschichte hieß es, dass man sich alles wünschen konnte, was man wollte. Jeder noch so kleine Wunsch würde in Erfüllung gehen, wenn man als Gegenleistung dafür etwas bot. Als eine Art Vertrag wurde für jeden ausgesprochenen Wunsch ein Stern am Himmelszelt erleuchtet, der erst wieder verschwand, wenn man seine Schuld beglichen hatte, damit der Traum in Erfüllung gehen konnte. Sternschnuppen trugen ihn dann hinab auf die Erde.
Mein Blick verweilte noch etwas länger bei dem Lichtermeer dort oben, ehe ich den vollen Sack wieder hochhob und in das Innere des Hauses trat. Auf dem kleinen Schreibtisch in der Ecke brannte noch eine Kerze. Die Flamme schien im Schein der Dunkelheit zu tanzen. Ganz langsam bewegte sie sich hin und her. Irena saß am Tisch. In ihrer linken Hand hielt sie eine angefangene Maske und in der rechten Hand eine ziemlich ausgefallene Feder. Ihren Kopf hatte sie auf die Holzfläche gelegt und ein leises Schnarchen war zu hören.
Lächelnd zog ich die Tür hinter mir langsam zu. Morgen würde sie sich wieder ärgern, dass sie eingeschlafen war, aber das war in Ordnung. Irena brauchte ihren Schlaf.
Ich schnappte mir die Kerze und lief durch das Vorzimmer, hinein in die kleine Küche mit dem runden Holztisch in der Mitte des Raumes. Ein Topf mit Suppe stand dort. Doch diesen beachtete ich kaum. Essen konnte ich noch später. Ich schritt die Holzstufen hinauf, die gleich nach der Küche anfingen. Die Decke war etwas niedrig und mit jedem Schritt musste ich meinen Kopf etwas mehr einziehen, bis ich endlich wieder aufrecht gehen konnte. Oben im Dach befand sich mein Zimmer. Es war groß, wenn auch etwas spärlich eingerichtet. Der komplette Dachstock gehörte mir, na ja, fast mir. Außer meinem Zimmer befanden sich noch zwei weitere Räume dort oben. Zum einen eine Abstellkammer und zum anderen Irenas Zimmer, das sie seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Oft schlief sie unten bei ihrem Arbeitsplatz, weswegen sie starke Rückenschmerzen plagten.
In meinem Zimmer befanden sich ein schmales Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen, eine Kommode und ein kleines Regal. Platz für mehr hätte ich gehabt, nur mehr brauchte ich nicht.
Auf meinem Bett lagen einige Kissen und Decken. Einen kleinen Teil nahm ich mit, während ich die Kerze noch in der anderen Hand hielt, und lief wieder hinunter zu Irena. Ihr Schnarchen unterbrach sie kein einziges Mal. Ihr Schlaf war tief und fest und womöglich hätte sie nicht einmal bemerkt, wenn sich eine Horde Ziegen in unserem Haus befunden hätte. Ich deckte sie zu und bettete ihren Kopf auf eines der Kissen. Das dichte Haar fiel ihr dabei vor die Augen. Ich lächelte, flüsterte leise »Gute Nacht« und wagte mich dann noch einmal hinaus in die Dunkelheit. Ich setzte mich direkt vor den Eingang des Hauses, stellte die flackernde Kerze neben mich und zog die Knie an meine Brust. Die Stille war wunderbar und manchmal genoss ich es einfach, wenn ich meine Augen schließen konnte und der Wind durch mein Haar fuhr.
Nur war heute etwas anders. Ich fühlte mich beobachtet. Fröstelnd rieb ich mir die Arme und starrte dorthin, wo die dichten Bäume sich umarmten. War da ein Schatten, oder spielte mir bloß die Dunkelheit einen Streich? Dieses eigenartige Gefühl verschwand wieder so schnell, wie es aufgetaucht war. Da war nichts, zumindest hoffte ich das.
Ich schüttelte meinen Kopf und stand auf. Erstaunlicherweise war ich immer noch hellwach. Ich ging kurz nach drinnen und vergewisserte mich noch einmal, dass Irena wirklich tief und fest schlief, ehe ich eines der Küchenmesser in meinem Stiefel versteckte, die Kerze ausblies und hinaus in die Nacht schlich. Ich schlenderte einen kleinen Weg entlang, über einen Hügel und vorbei an Sträuchern und Wildblumen. Immer wieder wanderte mein Blick dabei zu den dichten Baumkronen des Waldes, der sich nun immer mehr entfernte, je weiter ich hinab in das Dorf lief.
Über all die Jahre hatte ich mich immer wieder gefragt, woher ich kam. Warum ich in jener Nacht nach einer Maske gefragt hatte, war für mich weiterhin ein Rätsel. Es schien beinahe so, als ob mir all die Erinnerungen vor jenem Abend fehlten. Auch Irena konnte mir nicht wirklich weiterhelfen. Sie hatte sich überall erkundigt, doch niemand kannte mein Gesicht oder meine Geschichte. Alles rund um meine Vergangenheit blieb verborgen hinter dem Schatten der Ungewissheit.
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