1.3 Das Potsdamer Kommentarkorpus
In der Entstehungszeit von ANNIS wurde auch das ‚Potsdamer Kommentarkorpus‘ (PCC) als exemplarisches Korpus für die Mehrebenen-Annotation entwickelt (Stede, 2004). Es besteht aus 174 Texten aus der Märkischen Allgemeinen Zeitung (MAZ) , die ursprünglich auf den Ebenen Satzsyntax, nomnale Koreferenz und Rhetorische Struktur annotiert wurden. In der aktuellen Version PCC 2.01 (Stede u. Neumann, 2014) sind Konnektoren und ihre Argumente hinzugekommen. Die der Annotation zugrunde liegenden Richtlinien sind in dem online frei zugänglichen Band (Stede, 2016a) zusammengefasst. Alle Texte stammen von den Kommentarseiten der MAZ aus den frühen 00er Jahren und sind etwa 12–14 Sätze lang. Das PCC ist in ANNIS3 online verfügbar und kann für Korpusabfragen zu den meisten der in Teil II des Buches diskutierten Annotationsebenen verwendet werden. Eine ausführlichere Darstellung der Hintergründe des Korpus und der zugrunde liegenden Design-Entscheidungen beim PCC findet sich in (Stede, 2016b).
1.4 Übersicht über das Buch
Der Teil I ‚Einführung und Grundbegriffe‘ wird im folgenden Kapitel mit einer Diskussion der Schlüsselbegriffe Kohäsionund Kohärenzfortgesetzt, die üblicherweise als die zentralen Merkmale der Textualitätverstanden werden. Anschließend stellen wir Konzeptionen zu den miteinander verwandten Begriffen Textfunktion, Textsorteund Texttypvor und betonen hier auch die wichtige Rolle von Korpora für den Erkenntnisgewinn (Kap. 3).
Teil II des Buches widmet sich den verschiedenen Ebenen der Textanalyse. Zunächst geht es um die Referenzielle Struktur(Kap. 4 Manfred Stede Korpusgestützte Textanalyse Grundzüge der Ebenen-orientierten Textlinguistik A. Francke Verlag Tübingen [bad img format]
), dann um die Thematische Strukturund die Verbindung zur Informationsstruktur von Sätzen (Kap. 5). Nach einem Blick auf Temporale Struktur(Kap. 6) wenden wir uns den Sprechakten und der daraus hervorgehenden Konzeption einer Illokutionsstrukturzu (Kap. 7). Den Abschluss bildet eine genauere Betrachtung des Typus der argumentativenTexte und ihrer Struktur (Kap. 8).
Teil III untersucht exemplarisch einen Ansatz, der sich nicht nahtlos in die Ebenen-Darstellung integrieren lässt, weil er einen umfassenderen Anspruch auf „die“ linguistisch motivierte Textstrukur erhebt. Hiernach kann ein Text in seine strukturell-relevanten minimalen Einheiten zerlegt werden (Kap. 9), die dann durch sogenannte Kohärenzrelationen zu einer Rhetorischen Strukturzusammengefügt werden (Kap. 10).
Am Schluss fasst Kapitel 11dann das zentrale Anliegen noch einmal zusammen, weist exemplarisch auf Wechselwirkungen zwischen einzelnen Ebenen hin, und nimmt im Lichte der in Teil II und III diskutierten Fragen abermals die Frage nach der Kohäsion, der Kohärenz und der Textstruktur(en) unter die Lupe.
Die einzelnen Kapitel sind so konzipiert, dass sie zwar nach einer gewissen Logik aufeinander folgen, doch sie lassen sich recht problemlos auch einzeln bearbeiten, wenn sich das Lese-Interesse auf ausgewählte Themen richtet.
Abschließend zwei Hinweise zur Terminologie: (i) Die Frage der Verwendung geschlechts/un/spezifischer Bezeichnungen behandeln wir in diesem Buch durch zufälligen Wechsel zwischen maskuliner und femininer Form. (ii) Die „handelnden Personen“ rund um den Text bezeichnen wir meistens als ‚Autorin‘ oder ‚Verfasser‘ und ‚Leser‘, doch mitunter (etwa bei der Diskussion von Sprechhandlungen) verwenden wir auch andere Begriffe wie ‚Sprecher‘, ‚Hörerin‘, ‚Adressat‘ oder ‚Rezipientin‘, ohne damit jeweils wichtige theoretische Unterscheidungen zu verbinden.
1.5 Übungsaufgabe
Wählen Sie aus dem Online-Angebot einer Tageszeitung einen nicht zu langen Kommentar (10–15 Sätze) aus und speichern Sie ihn in einer „plain text“ Datei. Der Kommentar sollte nicht allzu schwierig sein in dem Sinne, dass er eher arm an komplexen syntaktischen Konstruktionen sein und möglichst keine wiedergegebene wörtliche Rede enthalten sollte. Dieser Text wird die Arbeitsgrundlage für viele der Übungsaufgaben der nachfolgenden Kapitel sein. Falls Sie planen, den technischen Anregungen zu folgen und spezielle Software-Werkzeuge für die Annotation Ihres Kommentars einzusetzen, können Sie in Ihrem Text Umlaute und Sonderzeichen ersetzen, um etwaige ärgerliche und zeitraubende Zeichensatz- und Konvertierungs-Probleme von vornherein zu vermeiden. Aber auch, wenn Sie sich mit spezieller Software nicht befassen wollen, werden Sie vielleicht die verschiedenen Anmerkungen zu Ihrem Kommentar speichern und wiederfinden wollen. In diesem Fall brauchen Sie eine Datei und nicht nur einen Papier-Ausschnitt.
2 Kohäsion, Kohärenz und Textualität
Dieses Kapitel wirft zunächst einen Blick auf die Wurzeln der Textlinguistik und beleuchtet dann in Kürze die wesentlichen Phänomene der Kohäsion und Kohärenz. (Diese werden in den nachfolgenden Kapiteln dann vertieft dargestellt.) Weitere Phänomene der Textualität werden angesprochen und Beispiele für die Untersuchung annotierter Korpora genannt.
2.1 Die Anfänge der Textlinguistik
In den 1960er Jahren, einer durch die bahnbrechenden Entwicklungen von Chomskys Generativer Transformationsgrammatik ausgelösten „Blütezeit der Syntax“, waren die Untersuchungsgegenstände der Linguistik das Morphem, das Wort, die systematischen Wortgruppen bzw. Konstituenten und der Satz. Nur wenige Sprachwissenschaftler zeigten sich von dieser Konzentration auf die Satz-Beschreibung unbefriedigt und meldeten Interesse an, auch satzübergreifende Phänomene zum Ziel linguistischer Untersuchung und Theoriebildung zu machen, mithin den Text als linguistische Einheit zu begreifen.
Einer der wesentlichen Auslöser der Beschäftigung mit Texten war der Wunsch, die Funktion und Bedeutung von PronominaPronomina linguistisch zu erklären. Pronomina sind die augenfälligsten sprachlichen Mittel, die Bezüge zwischen Sätzen herstellen. Hier ein auch von Linke u.a. (1994) zitiertes Textbeispiel aus einem Roman:
(2.1) Ich glaube, dann war Nadja dran. Sie hatte sich für Jura beworben und wußte längst, daß sie zugelassen war. Sie hatte es telefonisch erfahren, und sie hatte mittlerweile auch einen Förderungsvertrag mit Patenschaft und so unterschrieben. Sie kriegte dann aber irgendwie Kontakt mit einer frustrierten Richterin, die den Laden von innen kannte. Von da an wollte Nadja nicht mehr.(Thomas Brussig: Wasserfarben )
Mit Ausnahme eines einzelnen Teilsatzes ist kontinuierlich die Rede von Nadja, auf die nach der ersten Erwähnung durchgehend mit dem Personalpronomen sie verwiesen wird – bis zum letzten Satz, wo wieder ihr Name genannt wird, entweder um der drohenden Monotonie zu begegnen, oder um einer möglichen Verwechslung mit der Richterin vorzubeugen. Der Autor hat bei der Wahl seiner referierenden AusdrückeReferenzieller Ausdruck (auch ‚referenzielle Ausdrücke‘ genannt) viele Freiheiten: Er kann Eigennamen, Pronomen, umschreibende Nominalphrasen (NP) verwenden. Gleichzeitig unterliegt er aber auch Beschränkungen, denn das intendierte Bezugsobjekt muss von der Leserin auch ohne allzu viel Mühe rekonstruiert werden können. Solcherlei Beobachtungen zum Wechselspiel zwischen Wahlfreiheit und Einschränkung bei der Textproduktion weckten das Interesse derjenigen, die den Blick über den sprichwörtlichen Tellerrand des Satzes hinaus richteten.
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