Die nächsten Zitate beziehen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Stellenwert von Beurteilungsgesprächen mit anwesenden Eltern auf der Sekundarstufe II. Die ersten beiden Auszüge stammen von Mitgliedern der Schulleitungen an zwei unterschiedlichen Gymnasien, die mir persönlich bekannt sind. Beide haben sich zunächst für das Projekt interessiert, jedoch nach Absprachen in der gesamten Schulleitung eine Absage erteilen müssen:
Aus Datenschutzgründen lehnt sie [die Schulleitung, VM] die Anfrage ab. Sie erachtet es als nicht zulässig, eine Drittperson in die Gesprächsrunde beizusetzen. Wir wissen auch nicht, wer überhaupt an die Elterngespräche kommt, d.h. man kann die Einwilligung bei den Eltern nicht vorher einholen. (Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2013)
Wir haben relativ wenig Elterngespräche und viele Kolleginnen und Kollegen sehen bei den Lernberichtsgesprächen die Eltern das erste Mal. (Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2012)
Im ersten Ausschnitt wird einerseits der Datenschutz hervorgehoben. Dies war durchgehend eine grosse Sorge der angefragten Schulleitungen und es konnte nicht immer erfolgreich versichert werden, dass die Daten vertraulich behandelt und durchgehend anonymisiert werden. Ebenfalls wurde bei der Datenerhebung schon nach den ersten ablehnenden Äusserungen auf die Möglichkeit der teilnehmenden Beobachtung verzichtet und nur ein Aufnahmegerät mitgegeben. Der zweite Punkt in diesem ersten Ausschnitt thematisiert die ethischen Bedingungen einer solchen Untersuchung und zeigt ein Problem auf, das bezeichnend für die Organisation von Kontakten zu Eltern auf der Sekundarstufe II ist. Meist sind keine klassendeckenden Beurteilungsgespräche mehr vorgesehen, sondern es finden Sprechstunden statt, die regelmässig von den Schulen angeboten werden. Die Handhabe ist teilweise so, dass sich die Eltern in eine Liste eintragen und auf diesem Weg anmelden. Im Falle dieser Schule scheint dies jedoch nicht nötig zu sein. Das Problem, welches daraus für die Forschungssituation entsteht, ist nachvollziehbar. Wenn die Gesprächsteilnehmenden in wenigen Sekunden entscheiden müssen, ob sie mit einer Aufnahme einverstanden sind oder nicht, kann dies als unethisch empfunden werden.
Im zweiten Ausschnitt wird zudem darauf verwiesen, dass am Gymnasium kein regelmässiger Austausch zwischen der Schule und den Eltern mehr stattfindet. Die Aussage, dass Lehrpersonen die Eltern bei diesen Gesprächen das erste Mal sehen, impliziert eine Unsicherheit auf der Beziehungsebene oder zumindest eine fehlende Routine in dieser Gesprächskonstellation.
Und schliesslich wird die Schwierigkeit, alle nötigen Einwilligungen auf der Sekundarstufe II zu erhalten auch damit erklärt, dass Beurteilungsgespräche an einigen Schulen nur noch in Problemfällen stattfinden. Dies wird in den letzten beiden Auszügen gezeigt. Im ersten Fall handelt es sich um eine Lehrerin auf Gymnasialstufe, die selber keine Gespräche aufnehmen konnte, da sie zum Zeitpunkt der Anfrage kurz vor der beruflichen Abwendung von der Schule stand. Es ging in ihrem Schreiben um mögliche Kontakte. Im zweiten Fall findet sich eine Erklärung eines Schulleiters, der mit Aufnahmen einverstanden war, sofern sich Lehrpersonen, Eltern und Lernende bereit erklären:
[J]e älter und ‚mündiger’ unsere Schülerinnen und Schüler werden, desto mehr reden wir fast ausschliesslich direkt miteinander, Eltern dürfen ja dann im Normalfall nur noch dabei sein, wenn ihre Söhne und Töchter das erlauben. Im Nicht-Normalfall ist Gross-Krise, vermutlich ohne Tonband… (Lehrerin, persönliche E-Mail, 2012)
[A]us meiner Optik dünkt mich die Sache recht heikel, da der Anlass solcher Gespräche nicht immer erfreulich ist und mit der Anwesenheit einer Drittperson die Situation eine andere wird. […] Zudem finden immer seltener Elterngespräche statt, da bei Volljährigkeit die Lernenden unsere direkten Ansprechpartner sind. (Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2012)
In beiden Auszügen wird betont, dass die SchülerInnen selbst als primäre Ansprechpartner gelten und es nur in Krisenfällen zu Elternkontakten kommt. Folglich sind diese Gespräche auch „nicht immer erfreulich“ oder „heikel“ und somit als sensibel einzustufen. Es überrascht nicht und deckt sich auch mit mündlichen Aussagen von anderen Schulleitungen und Lehrpersonen, dass gerade in diesen Fällen, die für eine Untersuchung interessant wären, die Einwilligungen für eine Aufnahme eher nicht zustande kämen. Dass es auch bei Gesprächen auf der Primarstufe zu heikleren Settings und Krisengesprächen kommen kann, ist zwar nicht auszuschliessen. Was aber insbesondere die Gespräche auf der Sekundarstufe II problematischer erscheinen lässt, ist einerseits der Umstand, dass erst bei vorhandenen Schwierigkeiten überhaupt ein Gespräch veranlasst wird. Andererseits ist die Gesprächssituation ungewohnter, wenn es zwischen den Beteiligten nicht zu einem regelmässigen Austausch kommt. Dies widerspiegelt sich in der zitierten Aussage, dass die Lehrpersonen häufig bei diesen Gesprächen das erste Mal den Eltern gegenüberstehen.
Auch wenn es sich bei den Ausführungen um allgemeinere Eindrücke und Einzelbetrachtungen von schriftlichen Aussagen handelt, die nicht systematisch eingeholt wurden, sind sie in Bezug auf die soziale Praxis des Beurteilungsgesprächs aufschlussreich. Die Beobachtungen zur Kooperation respektive Zurückhaltung von angefragten AkteurInnen zeigen ein allgemeines Unbehagen der Beteiligten mit der Gesprächssituation. Gleichwohl wird diesem Umstand in Ausbildungsgängen nicht genügend Rechnung getragen. Gerade wenn im Bereich der Sekundarstufe II die Beurteilungsgespräche in der Häufigkeit abnehmen und nur in Problemfällen geführt werden, bestärkt dies m.E. die Notwendigkeit einer Untersuchung genau solcher Gespräche, um eine entsprechende Vorbereitung von angehenden Lehrpersonen gewährleisten zu können.
Abschliessend stellt sich noch die Frage, inwiefern die Gespräche heikel sind und weshalb in vielen Fällen nur sehr zögerlich auf das Forschungsvorhaben reagiert wurde. Besonders im Hinblick auf die inzwischen lange Forschungstradition der Arzt-Patienten-Kommunikation erscheinen die potenziell heiklen Themen in einem schulischen Beurteilungsgespräch verschwindend klein und die Datenschutzfrage bei gewährleisteter Anonymisierung geklärt zu sein. Spekulativ lässt sich die Vermutung anstellen, dass es nicht so sehr um sensible Informationen zum Kind oder weiteren Beteiligten geht, sondern dass die am Gespräch Beteiligten in Bezug auf die Gesprächspraktiken und die Beziehungsebene unsicher sind. Gerade deswegen ist es wichtig, die Forschungsfragen dieser Arbeit anzugehen: Was geschieht in diesen Gesprächen? Welche Praktiken und Ressourcen werden von den Gesprächsteilnehmenden verwendet? Welche Ziele werden von den einzelnen Beteiligten verfolgt und auf welche Weise? Und wie positionieren sich die Beteiligten in den Gesprächen, wie handeln sie ihre Rollen aus? Die Reflexion des Erhebungsprozesses zeigt einerseits, in welchem Umfeld die Studie angesetzt ist und welche AkteurInnen involviert sind, andererseits lassen sich durch den Einbezug dieses Kontextes erste Fragen an das Datenmaterial entwickeln.
Erhebung der Gesprächsdaten
Das Erteilen der Informationen an die beteiligten Parteien sowie das Einholen der entsprechenden Einwilligungen waren je nach Schule und persönlichen Kontakten unterschiedlich organisiert. In der Regel bestand ein Kontakt zwischen Forscherin und Schulleitung sowie Lehrperson. Die Eltern wurden dann brieflich, oder in Einzelfällen telefonisch, direkt von der Lehrperson angefragt. In einigen wenigen Fällen liefen alle Kontakte zu den Gesprächsteilnehmenden via Schulleitung und sind somit der Forscherin nicht bekannt. Nur in einem Fall sind der Forscherin die Eltern bekannt, da es sich um einen persönlichen Kontakt handelt.
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