Wie in Kapitel 2.1.1 dargelegt wurde, gibt es in der Gesprächsforschung unterschiedliche Positionen zum Einbezug von zusätzlichen Informationen bezüglich Untersuchungsfeld und Gesprächssituation. Während in der klassischen Konversationsanalyse ausschliesslich die Gesprächsaufnahmen als Datenmaterial verwendet werden, wird inzwischen jedoch vermehrt auf ergänzende Daten und Beobachtungen zurückgegriffen, um noch tiefere Einblicke in die ‚Kultur’ des untersuchten Gesprächssettings zu erhalten (vgl. Deppermann 2000; Deppermann 2008a: 22ff.). Festzuhalten sind dabei nicht nur allgemeine Beobachtungen zum Feld oder zu ergänzenden Gesprächen mit den Studienteilnehmenden, sondern auch zum gesamten Ablauf der Datenerhebung. So empfiehlt Deppermann (2008a: 24) auch Kontaktversuche und Vorbesprechungen zu protokollieren, denn
[d]ie Bedenken, Widerstände und Ängste, die sich einer Untersuchung entgegenstellen, sind oft ebenso aufschlußreich für das, was wir erforschen wollen, wie die Gespräche, die wir schließlich aufnehmen können.
Diese Daten können zusätzliche Eindrücke gewähren und eine schärfere und umfassendere Analyse der situationstypischen Eigenheiten ermöglichen. Ganz in diesem Sinne ist die folgende Darstellung zu verstehen, in der beschrieben wird, wie die Kontakte mit den Schulen zustande kamen und mit welchen Reaktionen von Schulleitungen, Lehrpersonen, Eltern sowie SchülerInnen ich mich konfrontiert sah.
Zugang zum Forschungsfeld
Die Datenerhebung fand von 2011–2013 statt und war von Anfang an durchzogen von Absagen und Verzögerungen, sodass im längsten Fall über ein Jahr zwischen Kontaktaufnahme und tatsächlicher Aufzeichnung eines Gesprächs verstrich. Insgesamt lassen sich allerdings stufenspezifische Unterschiede vermerken. So wurde vonseiten der angefragten Lehrpersonen an Primarschulen sofortiges Interesse bekundet und die Schulleitungen zeigten ebenfalls wenig Bedenken. Das Einverständnis der Eltern wurde von den Lehrpersonen eingeholt und die Bereitschaft sei ebenfalls gross gewesen. Die einzige Skepsis betraf die allfällige Anwesenheit der Forscherin. So wurde die teilnehmende Beobachtung als weitere Erhebungsmethode sehr früh ausgeschlossen.
Anders sieht es jedoch auf den Sekundarstufen I und II aus, wo ich mit der Datenerhebung aus Gründen des ursprünglichen Forschungsinteresses begann. Durch die eigene Ausbildung zur Lehrerin auf gymnasialer Oberstufe sind Kontakte zu Schulen und Lehrpersonen vorhanden, die nun zum Forschungszweck reaktiviert wurden. Auch wurden Lehrpersonen und Mitglieder der Schulleitungen aus dem persönlichen Bekanntenkreis kontaktiert, um so an Gespräche zu kommen. Ich sah mich von Beginn weg konfrontiert mit starker Ablehnung vonseiten vieler Schulleitungen und es war insgesamt eine grosse Herausforderung, die Einverständnisse aller beteiligter Personen zu erhalten. Verschiedene Gründe führten schliesslich zu teilweise sehr kurzfristigen Absagen: In einigen Fällen lag das Einverständnis der Schulleitung vor, jedoch fehlte die Bereitschaft von Lehrpersonen; oder die Schulleitung und eine Lehrperson waren einverstanden, nicht aber die angefragten Eltern sowie in einem Fall der angefragte mitanwesende Schüler; oder schliesslich kam es auch in einigen Fällen zu Absagen, da nach erfolgreicher Anfrage von Lehrpersonen die Schulleitungen ihre Bedenken äusserten und die Aufnahmen verunmöglichten. So waren insgesamt unter den angefragten Personen deutlich mehr potenzielle Teilnehmende, die jedoch aufgrund einer weiteren, fehlenden Einwilligung nicht Teil der Untersuchung werden konnten.
Die Beweggründe, die zu einer Absage oder zu einer zurückhaltenden Einstellung führten, sind sehr unterschiedlicher Natur und sollen mit den folgenden (anonymisierten) Auszügen aus den entsprechenden E-Mails demonstriert werden. Der erste Auszug stammt aus einer Absage auf die schriftliche Kontaktaufnahme mit einem Gymnasium, zu dem keine persönlichen Kontakte bestehen. Es handelt sich folglich nicht um eine blosse Einwilligung, sondern gleichzeitig um eine Anfrage, die Datenerhebung durch das Herstellen von Kontakten zu Lehrpersonen aktiv mitzugestalten. Die Absage gründet auf drei unterschiedlichen Ebenen:
1 Die Schulen stecken mitten in einem Reformprozess, der die Lehrerschaft enorm belastet. Wir müssen mit unseren Kräften haushälterisch umgehen.
2 Wir bekommen fast täglich Anfragen für Studien, Umfragen und Evaluationen, die wir an den Schulen durchführen sollten. Wir müssen uns davor schützen, zu einem Versuchslabor zu werden.
3 Elterngespräche sind etwas enorm Wichtiges und höchst Vertrauliches. Auch wenn alles anonymisiert wird, stört jede Aufnahme und Auswertung den Ablauf der Gespräche sehr. Der Gewinn scheint uns geringer als der Preis.
(Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2012)
Wie hier deutlich wird, geht es bei den ersten beiden Punkten nicht in erster Linie um das aktuelle Forschungsvorhaben, sondern um eine generelle Positionierung der Schule als Institution, die verschiedenen Anforderungen gerecht werden muss. Das regelrechte Überhäufen von Anfragen aus Forschungsprojekten wurde von anderen Schulleitungen in Unterhaltungen bestätigt bzw. ähnlich dezidiert formuliert. So wurde teilweise grosses Interesse am vorliegenden Projekt kundgetan und dennoch keine Einwilligung gegeben, da die Schulen grundsätzlich vor Studien geschützt werden sollten und die Teilnahme nur noch bei erhöhtem Druck ‚von oben’ zugelassen würden, nämlich bei grösseren kantonalen oder nationalen Forschungsprojekten. Im Rahmen dieser Argumentation lassen sich wohl auch die teilweise komplett ausbleibenden Antworten von Schulleitungen interpretieren.
Beim dritten Punkt geht es hingegen um die konkrete Anfrage und die abschlägige Antwort bezieht sich v.a. auf die als Störung empfundene Aufnahme der als vertraulich eingestuften Beurteilungsgespräche. Dass die anschliessende Anonymisierung der Daten die Vertraulichkeit der Gesprächssituation dennoch ermöglicht, wird hier implizit ausgeschlossen. So wird nicht nur die Aufnahme als Störung empfunden, sondern auch die anschliessende Auswertung der Daten. Es wird hier impliziert, dass alleine das Wissen um die zukünftige Auswertung den aktuellen Gesprächsverlauf zu beeinflussen vermag. Ein weiterer Aspekt wird in diesem dritten Punkt angesprochen, nämlich der ‚Gewinn’ oder Nutzen für die Schulen. In erster Linie wurde bei der Anfrage jeweils kommuniziert, dass die Analysen dazu genutzt werden können, die angehenden Lehrpersonen in Bezug auf die Gesprächskompetenz zu schulen, was folglich den Schulen zugute käme. In den Folgegesprächen mit Schulleitungen bot ich zudem an, zu einem späteren Zeitpunkt vor Ort über die Studienergebnisse zu berichten. Überraschenderweise wurde nur vereinzelt der Wunsch einer dementsprechenden Präsentation signalisiert.
Im folgenden Auszug kommt ebenfalls die befürchtete Störung zur Geltung. Vor der Kontaktaufnahme mit der Schulleitung eines Gymnasiums fand bereits ein Austausch mit einer Lehrperson statt, die ihre Bereitschaft zur Teilnahme ankündigte. Mit der Anfrage an die Schulleitung sollte demnach nur noch eine grundsätzliche Einwilligung eingeholt werden, dass an dieser Schule ein Gespräch aufgenommen werden darf:
Lernberichtsgespräche sind aus unserer Sicht zentrale Bestandteile der qualitätsorientierten Kommunikation zwischen Schule und den Familien. Diese Kommunikation soll in keiner Weise durch zusätzliche Erhebungen tangiert werden. (Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2013)
Auch hier wird die Wichtigkeit der Gespräche hervorgehoben und die Störung zu Forschungszwecken abgelehnt. Interessant bei dieser Aussage ist die Formulierung, dass die Gespräche zur „qualitätsorientierten Kommunikation zwischen Schule und den Familien“ gehören. Vor dem Hintergrund, dass (aus Erfahrung insbesondere auf der Sekundarstufe II) die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen in Bezug auf die Gesprächskompetenz im Kontakt mit Eltern vernachlässigt wird (vgl. z.B. Gartmeier et al. 2011; Lemmer 2011; 2012; Minke & Anderson 2003), stellt sich die Frage, wie denn die Qualitätsorientierung gewährleistet werden kann. Da es zurzeit noch an entsprechender Grundlagenforschung mangelt, scheint kein Weg an dem Dilemma vorbeizuführen, dass mit dem Wunsch nach fundiertem Wissen über die Gespräche eine gewisse ‚Störung’ einhergeht.
Читать дальше