Schmitt und Knöbl (2013; 2014) stellen schliesslich erste Überlegungen zum multimodalen Recipient Design an und zeigen, dass zusätzlich zur Verbalität weitere Ressourcen wie Blickverhalten, Körperausrichtung und Gestik das Recipient Design beeinflussen. Für die multimodale Interaktionsforschung muss daher auch die bisherige Konzeption überdacht und erweitert werden. Schmitt und Knöbl nehmen Präzisierungen des Konzepts vor, die auch für die folgenden Überlegungen wichtig sind, obschon die vorliegenden Daten keine multimodale Analyse zulassen.
Die Ausführungen zu Design-Aktivitäten können nicht als abschliessende Zusammenschau verstanden werden, sondern es soll damit aufgezeigt werden, welche Breite das Konzept des Recipient Designs abdeckt und welche Aspekte als für das Konzept konstitutiv betrachtet werden. In der empirischen Analyse der vorliegenden Studie sollen Praktiken der Adressierung und des Gebrauchs von Referenzen in den Zusammenhang gebracht und auf ihre Funktionen hin untersucht werden. Weiter soll es darum gehen, die für schulische Beurteilungsgespräche typischen Positionierungsaktivitäten zu spezifizieren.
2.2.3 Aufgaben und Herausforderungen in der Mehrparteieninteraktion
Im Vergleich zu dyadischen Gesprächen sehen sich Gesprächsteilnehmende in Mehrparteieninteraktionen mit zusätzlichen Aufgaben und Herausforderungen konfrontiert, die massgeblich mit dem Recipient Design und der Gesprächsorganisation in Verbindung stehen (vgl. z.B. Sacks, Schegloff & Jefferson 1974: 712ff.; Schegloff 1996b: 19ff.). Zum einen müssen sich Gesprächsteilnehmende jeweils gleichzeitig an mehreren Rezipierenden orientieren und ihre Äusserungen so gestalten, dass möglichst alle Beteiligten in Bezug auf ihre Wissensbestände, Rollen etc. optimal berücksichtigt werden (vgl. Hitzler 2012: 117ff.; 2013: 113ff.). Zum anderen kann in Gruppengesprächen im Prinzip jede anwesende Person den nächsten Turn übernehmen und so muss angezeigt werden, wer beispielsweise auf eine Frage antworten soll. Die Zuweisung des Rederechts gewinnt dadurch an zusätzlicher Bedeutung und kann durch spezifisches Turn Design und durch die Verwendung von Adressierungsformen und Referenzen verdeutlicht werden (vgl. z.B. Malone 1997: 42ff.; Schegloff 1996b: 20).
Da in Mehrparteieninteraktionen davon ausgegangen werden muss, dass die einzelnen Beteiligten über verschiedene Wissensbestände verfügen, zeigt sich eine Komplexität des Recipient Designs bei der Konstruktion von Common Ground. Wenn nicht alle Gesprächsbeteiligten über das in der Interaktion relevante Wissen verfügen, kann es zur Situation kommen, dass an verschiedenen Stellen Wissen für das Gespräch aufbereitet wird, über das mindestens eine rezipierende Person bereits verfügt und für den/die das Gesagte nur eine Wiederholung ist. Sacks beurteilt eine derartige Wiederholung vor denselben Rezipierenden als Missachtung der Maxime des Recipient Designs, welches bei ihm lautet: „A speaker should, on producing the talk he does, orient to his recipient“ (Hervorhebung im Original entfernt) und woraus er die logische Konsequenz zieht, dass „if you’ve already told something to someone then you shouldn’t tell it to them again, or if you know in other ways that they know it then you shouldn’t tell it to them at all“ (Sacks 1995: II: 438 [Fall 1971, lecture 4]). So formuliert mag die Maxime auf dyadische Interaktionen zutreffen, wo die Orientierung am Gegenüber implizieren kann, dass Wissen nicht wiederholt für diese Person aufbereitet wird. In der Mehrparteieninteraktion scheint es jedoch fast unmöglich zu sein, dieser Maxime gerecht zu werden, da unterschiedliche Rezipierende nicht denselben Wissensstand aufweisen. Die Maxime macht insofern nur dann Sinn, wenn davon ausgegangen wird, dass eine Äusserung einen Neuigkeitswert für mindestens eine anwesende Person aufweist. M.E. lässt Sacks’ Formulierung diese Lesart offen, im Gegensatz dazu geht jedoch Hitzler (2013: 113) davon aus, dass gemäss Sacks „nicht problemlos eine Erzählung wiedergegeben werden [kann], wenn unter den anwesenden Empfängern eine Person ist, die diese Erzählung bereits kennt“. Folgt man dieser Interpretation, so hat die Maxime in vielen Mehrparteieninteraktionen keine Geltung. In den folgenden Analysen soll aber weniger von einer Missachtung der Maxime ausgegangen werden, sondern die Maxime soll als Ausgangspunkt der Betrachtung genommen werden. Interessant ist etwa, diejenigen Kontexte zu untersuchen, in denen Wissen aufbereitet wird, welches mindestens einer anwesenden Person schon bekannt ist.
In Bezug auf die Adressierung drängt sich in Mehrparteieninteraktionen eine begriffliche Differenzierung auf, um zwischen gemeinten und tatsächlichen Rezipierenden zu unterscheiden. In den unterschiedlichen Untersuchungen und Konzeptionen des Recipient Designs tauchen die Begriffe AdressatInnen , RezipientInnen und Gesprächsteilnehmende mit teilweise anderen Implikationen auf. In Anlehnung an Levinson (1988: 171ff.) werden als Adressierte diejenigen Rezipierenden verstanden, die direkt adressiert werden. Die Adressierung kann auf drei Ebenen erfolgen: durch sprachliche Adressierungsformen, durch ein spezifisches Recipient Design sowie durch die Körperorientierung (Gesten, Blickverhalten) bzw. durch eine Kombination der verschiedenen Verfahren (vgl. Hartung 2001: 1348ff.; Levinson 1988: 174), wobei allerdings in den vorliegenden Audiodaten nur erstere Verfahren untersucht werden können. Als sprachliche Adressierungsformen zählen Personalpronomen, Eigennamen, Titel oder auch Code-Switching (vgl. Hartung 2001: 1351; Levinson 1988: 179). Der Begriff der Rezipierenden gilt für all diejenigen, die mit dem Gesagten erreicht werden wollen, für die also eine Äusserung gestaltet wird (vgl. Konzeption des Recipient Designs). Gesprächsteilnehmende schliesslich sind ratifizierte Beteiligte der Interaktion. Die weitere Ausdifferenzierung der Beteiligungsrollen ist Bestandteil der folgenden Überlegungen (vgl. v.a. Kap. 2.3.1).
2.3 Organisation interaktiver Beteiligung
Mit dem Recipient Design hängt auch unmittelbar die Ausgestaltung und Organisation interaktiver Beteiligung zusammen, denn bei der gemeinsamen Aushandlung der jeweiligen Beteiligungsrolle ist die Ausrichtung am Gegenüber unumgänglich. Grundsätzlich lässt sich für die Beteiligungsrollen festhalten, „dass Sprecher – in ihrer Sprecherrolle – auch hören und dass Hörer, während sie zuhören, auch sprechen“ (Schwitalla 1993: 69). Im Folgenden werden die Beteiligungsrollen zuerst isoliert auf Rezeptions- und Produktionsseite betrachtet, um schliesslich das Zusammenwirken der Gesprächsteilnehmenden in der Interaktion zu diskutieren.
2.3.1 Beteiligungsrollen in der Interaktion
Von Goffman (1981), und später ausführlicher von Levinson (1988), wird eine begriffliche Ausdifferenzierung der Kategorien HörerIn und SprecherIn vorgeschlagen, die der Komplexität der möglichen Aktivitäten gerecht werden soll. Seine Überlegungen zu den verschiedenen Rollen der Beteiligten beginnt Goffman (1979; 1981)1 mit der Einführung des Begriffs footing , was soviel bedeutet wie „the alignment we take up to ourselves and the others present as expressed in the way we manage the production or reception of an utterance“ (Goffman 1981: 128). Levinson (1988: 163) ersetzt footing durch den Begriff participant role , welcher hier mit Beteiligungsrolle übersetzt wird. Während die Ausführungen von Goffman theoretischer Natur sind, versucht Levinson (1988: 164f.) empirische Evidenzen für die vorgeschlagenen Konzeptionen zu liefern und präsentiert weitere Einteilungen, die auf seinen Analysen zu grammatischen Kategorien in verschiedenen Sprachen und zum tatsächlichen Sprachgebrauch basieren.
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