Durch die transgressive Dynamik werden die zugrundeliegenden Begriffe entsubstantialisiert und ihre Scheinhaftigkeit bloßgelegt. Das impliziert jedoch zugleich, daß sich das transgressive Böse nur auf der Kehrseite derjenigen Diskurse entfalten kann, deren Grenzen es zugleich sprengt. Die Transgression entfaltet sich in Form der Dekonstruktion, und aus der Dekonstitution tradierter Diskurse konstituiert sich ein ambivalentes, substitutives Böses.10
Friedrich zufolge bietet Bataille damit jedoch nur ein Sprungbrett, um auch die ästhetische Dimension des Bösen beschreibbar zu machen, an der es Bohrer gelegen war (ohne dabei jedoch – wie bereits hervorgehoben wurde – konkrete Ansätze zu liefern, wie sich dieses ästhetische Böse genau formiert). Der Berührungspunkt beider Theorien liegt im Moment der Ekstase, die bei Bohrer jedoch als Intensität bzw. imaginative Entgrenzung gedacht wird. Während Bataille also die Ästhetik des Bösen größtenteils ausklammert – dabei jedoch einen inhaltlichen Ansatz zur Erfassung des Phänomens des Bösen bietet –, »lehnt Bohrer sozialhistorische oder funktionshistorische Erklärungen literarischer Konstrukte grundsätzlich ab, weil diese dadurch nicht als autonome ästhetische Akte verstanden würden«.11
Friedrich sucht nun, einen »Mittelweg« einzuschlagen, indem sie ihre Textanalysen dreischrittig ausrichtet: Zunächst geht es ihr um eine inhaltliche Analyse des Bösen auf der histoire -Ebene, d.h. sie sucht, das im Text repräsentierte Konzept des Bösen zu klassifizieren, z.B. als Profanation oder Sünde, und seine strukturelle Bedeutung für den Gesamthandlungsverlauf herauszuarbeiten. Im Zuge der Betrachtung der histoire -Ebene soll zudem Bohrers Theorie insofern fruchtbar gemacht werden, als die Semantiken des Bösen im Text identifiziert werden. In einem zweiten Schritt gelte es nun, die Diskursebene einer Untersuchung zu unterziehen, d.h. das Augenmerk liege nun auf der Ebene der Vertextungsstrategien. Die »Figurationen des Bösen«, die sich inhaltlich beschreiben lassen, unterscheidet sie hier deutlich von einer »transgressiven Bewegung«, »die sich nun nicht mehr auf ein diskursiv bestimmbares Böses als Objekt der Darstellung bezieht, sondern die durch die spezifischen ästhetischen Inszenierungsverfahren die Kehrseite, die Prämissen bzw. die blinden Stellen des Diskurses, welcher der Figuration des Bösen zugrunde liegt, aufdeckt«.12 Das, was also zunächst mithilfe tradierter Diskurse beschreibbar ist, wird in seiner defigurativen Potenz aufgedeckt, wodurch sich eine neue Form des Bösen konstituiert, ein ästhetisches Böses, welches wie das Heterogene Batailles Fragmente bestehender Diskurse rekonfiguriert.
Mit ihrem Beitrag verleiht Friedrich Bohrers Theorie des Bösen als ästhetische Kategorie ein deutlich festeres Fundament, indem sie sie mit Bataille und der Diskursanalyse in Verbindung bringt. Demgemäß ist das Böse bei Friedrich vor allen Dingen ein aggressives Konstrukt, das subversiv bestehende Diskurse unterläuft und damit vielleicht dem Konzept der Literatur als Gegendiskurs des frühen Foucault nahekommt. Die Methodik, die sie zur Analyse eines ästhetischen Bösen entwickelt, revidiert überdies Bohrers Theorie insofern, als das böse Sujet hier miteinbezogen wird – was eine Notwendigkeit zu sein scheint. Sie verweist auf die Ambiguität des Begriffes der »Ästhetik des Bösen«, der per se schon zweierlei impliziert: Geht es um die Ästhetisierung des Bösen oder ist die Ästhetik selbst böse? So argumentiert sie bezüglich der Schule des Bösen: »Einerseits wird immer wieder betont, daß es nicht um die dargestellte Thematik des Bösen geht, sondern um den Status der Fiktion; andererseits aber ist für den Kanon der Ecole du mal doch zunächst ein inhaltliches Kriterium entscheidend. Laclos, Sade und Flaubert werden dieser Tradition zugerechnet, weil sie etwas Böses darstellen.«13
1.1.3 Die Ästhetik des Bösen nach Peter-André Alt: Wiederholung, Transgression und Paradoxie
Die Unmöglichkeit, die Ästhetik des Bösen als autonome, von moralisch-ethischen Referenzen freigestellte Kategorie zu denken, betont auch Peter-André Alt. Hier verortet Alt auch die Problematik des Bohrer’schen Ansatzes: Wie kann ein (literarisches) Phänomen – das Böse – überhaupt als solches wahrgenommen werden, wenn es, um in seiner Evidenz zum Tragen zu kommen, der Überschreitung eines moralisch-ethischen Bezugs bedarf?
Anders als oft nahegelegt, stellt die Ästhetik des Bösen keine Autonomieästhetik dar. Die Akte der Entgrenzung, die sie produziert, sind nur dort wahrnehmbar, wo die Grenze, die sie überschreiten, bewußt gehalten wird. Auch der böse Text sieht sich, so scheint es, durch das moralische System beherrscht, das er negiert.1
Alt verweist – wie die Mehrheit von Bohrers Kritikern – darauf, dass ein solcher Ansatz, der die Ästhetik und den Autonomieanspruch absolut setze, die Bedeutung des Rezeptionsaktes, der auch Reflexionen moralischer Natur involviert, verkenne; es gelte, »die Autonomie, die das Böse im Prozeß der literarischen Imagination und ihrer Modellierung durch die Fiktion gewinnt, von der moralischen Prägung, die in der ästhetischen Erfahrung mitwirkt«2, zu unterscheiden. Demgemäß sucht Alt, dies in seiner Untersuchung der Ästhetik des Bösen insofern zu berücksichtigen, als er voraussetzt, dass in der ästhetischen Wirkung zuallererst ein »herausfordernder, regelwidriger Grundzug durch die Verletzung moralischer Normen«3 zu Tage tritt, d.h. die ästhetische Wirkung des Bösen beruht auf der Alteritätserfahrung des vermittelten Gegenstands bzw. seiner Fremdheit sowohl als das kulturell vermittelte »Andere«4 als auch das a-historische, »objektiv« fremdartige Böse, das sich im Text ästhetisch als »Primitivismus, Gewalt, Barbarei, Terrorismus«5 modelliert. Die besondere Leistung der Literatur seit dem 18. Jahrhundert liege aber nun besonders im Spiel von Alterität und Identität bzw. in der Familiarisierung eines primär als fremdartig empfundenen Bösen.6 Und eben dies sei die Grundlage der eigentümlichen Wirkung des Bösen, die zwischen Andersartigkeit und Intimität, zwischen Abstoßung und Anziehung oszilliere. Strukturelle Formprinzipien, in denen sich die Alterität des Bösen textuell modellieren lasse, seien Alt zufolge wiederum die »Muster[n] der Paradoxie, der Zweideutigkeit und Wiederholung, des Exzesses und der Grenzverletzung«7.
Dass es sich dabei um grundlegende Strukturmuster handelt, die das Böse im Text formal konstituieren, sucht er mittels einer Analyse paradigmatischer literarischer Texte zu veranschaulichen. So sei der Roman Justine, ou les Malheurs de la vertu (1791) des Marquis de Sade ein Beispiel dafür, wie sich das Strukturprinzip der Wiederholung als grundlegend für die Imagination des Bösen erweise. Das Motiv der verfolgten Unschuld dient in diesem Werk der Pervertierung sämtlicher gültiger Moralcodes: Die mit vierzehn Jahren verwaiste Justine wird ein ums andere Mal zum Opfer von Misshandlung, Folter und Demütigung, ohne dass sie sich dabei durch das Festhalten an der Tugend jemals aus dem brutalen Kreislauf der ihr widerfahrenden Grausamkeiten befreien könnte. In der Welt, die hier gezeigt wird, siegt allein das Laster: Während ihre Peiniger sowie ihre tugendlose Schwester Juliette (deren Geschichte in Histoire de Juliette, ou les Prospérités du vice , 1796 erzählt wird) trotz (oder gerade wegen) ihrer ruchlosen Grausamkeiten sozial aufsteigen und prosperieren, wird Justine am Ende vom Blitz erschlagen und die Tugend damit endgültig als vergeblich abgestraft.8 Die Unausweichlichkeit des Bösen, der naturhafte Trieb zum Verbrechen, die die Basis der Sade’schen Philosophie bilden, fänden nun ihre Entsprechung in der narrativen Organisation des Werkes:
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