Zahlreiche Versuche der Dichterin, nicht nur die Mannigfaltigkeit der Aspekte, Modelle, Erscheinungsformen und Modi der Liebe zu beschreiben, sondern auch die Liebe selbst zu typologisieren, trugen im Fließenden Licht zur Fundierung einer fortgeschrittenen Mystik und Philosophie der Liebe bei. So ist das eigentliche Ziel dieses Beitrags, auf das breite Spektrum der dort vorgenommenen Funktionalisierung der Liebe einzugehen16.
1. Mechthild und ihr Werk
Um 1207 (nach Neumann) in einer ritterlichen Familie in der westlichen Mittelmarkt geboren und höfisch erzogen1, soll Mechtild Offenbarungen empfangen haben, die sie als den unmittelbaren Gruß des Heiligen Geistes gedeutet und über dreißig Jahre später zu verschriftlichen begonnen hatte:
Ich unwirdigú súnderin wart gegruͤsset von dem heligen geiste in minem zwoͤlften jare also vliessende sere, do ich was alleine, das ich das niemer mere m o hte erliden, das ich mich zuͦ einer grossen teglichen súnde nie mohte erbieten. Der vil liebe gruͦs was alle tage und machte mir minnenklich leit aller welte suͤssekeit und er wahset noch alle tage. (IV, 2, 228)2
„[U]m 1230 [flüchtete sie] aus dem Elternhaus nach Magdeburg in ein Beginenhaus, um ein Leben in asketischer Heimatlosigkeit, Armut und Kasteiung zu führen“.3 Neumann vermutet hinter dieser einschneidenden Entscheidung einen schweren inneren Konflikt:
Die tiefbegriffene Gegensätzlichkeit von weltlichem Herrenturn und geistlicher Gottesknechtschaft, die Unvereinbarkeit irdischer Ehre und religiöser Demut, die Gefährlichkeit der ästhetischen Lebensverwirklichung in Zeremoniell und Kunstübung für die Seele ist gerade das Zentralerlebnis ihrer Jugend und der Anstoß zu ihrer Flucht ins Beginentum gewesen.4
Auf die Frage, warum sie nach der ersten, bereits um 1219 stattgefundenen und anschließend täglich wiederkehrenden Gotterfahrung so lange damit gewartet hatte, gesteht Mechthild am Anfang des vierten Buches (IV, 2, 231), dass es „schon seit langer Zeit […] [ihr] Wunsch gewesen sei, ohne eigene Schuld erniedrigt zu werden“ („Do hatte ich lange vor gegert, das ich ane mine schulde wurde versmaͤhet“). Nach ihrem ca. vierzig Jahre dauernden Aufenthalt im Beginenhof, dessen Vorsteherin sie später wahrscheinlich wurde, begab sie sich um 1270 aus nicht ganz ersichtlichen Gründen – vielleicht in Folge der Bestimmungen „einer Magdeburger Dominikanersynode von 1261 gegen das Beginentum“5, vielleicht – wie Kurt Ruh vermutet – „auf Anlaß der Familie bzw. ihres Bruders Balduin oder Heinrichs von Halle“6, vielleicht aber – wie Ursula Peters und Otto Langer wollen – wegen der „Unsicherheit und Gefährdung der semireligiösen Existenz“7 – in das Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben, wo sie unter der Äbtissin Getrud von Hackeborn in die Ordensgemeinschaft aufgenommen wurde. Dort starb sie um 1282.
1250 hatte Mechthild mit der Niederschrift des Fließenden Lichts begonnen. Zwar wurde sie dazu direkt durch ihren Beichtvater, den Dominikaner Heinrich von Halle, bewogen, doch glaubte sie damit primär der Aufforderung Gottes („du hies mich es selber schriben“ [II, 26, 136]; „Hette es got vor siben jaren nit mit sunderlicher gabe an minem herzen undervangen, ich swige noch und hette es nie getan“. [III, 1, 156]) Genüge zu leisten. Die durch Neumann ermittelte Chronologie sieht drei Entstehungsstufen des Werkes: Bücher I-V (zw. 1250–1259), VI (zw. 1260–1270/71), VII (zw. 1271–1282).8 Das niederdeutsche Original des Fließenden Lichts ist verschollen; auf uns gekommen ist nur eine lateinische, wahrscheinlich kurz nach Mechthilds Tod entstandene Übersetzung der ersten sechs Bücher und eine etwas spätere, auf ca. 1343/45 datierte oberdeutsche Übertragung des ganzen Textes. Der Mangel an tieferer Bildung, den die Mystikerin selbst als ein Handicap ansah und der die lateinunkundige Frau dazu zwang, sich bei der Niederschrift ihres Werkes mit einem deutschen Dialekt zu behelfen, erwies sich im Nachhinein als Glücksfall. Auch in dieser Hinsicht markiert Mechthilds Buch einen tiefen Einschnitt, da es „ein herausragendes Beispiel für den in der Geschichte der abendländischen Mystik epochalen Schritt vom Latein zur Volkssprache“9 darstelle.
2. Zur Eigenart der Erotik im Fließenden Licht
Den Namen der vielleicht „kühnste[n] erotische[n] Dichtung, die wir aus dem Mittelalter besitzen“1 verdiente sich das Fließende Licht nicht nur dank seiner „unverhüllt erotischen Metaphorik“.2 Otto Langer stellt als eine besondere Eigentümlichkeit Mechthilds heraus, dass sie in ihrem „Ansatz Brautmystik und Passionsmystik zu einer spannungsvollen Einheit“3 verbinde. Gemeint ist die ausufernde Ekstatik des Liebeserlebnisses, aus der sich auf einer höheren Stufe dessen paradoxe Ambivalenz ergibt. Für die durch Gott liebevoll gegrüßte Seele stellt die traditionell höchste Stufe der mystischen Erfahrung, die unio mystica , d.h. die in Form einer mystischen Hochzeit vollzogene Vereinigung mit Christus als Bräutigam, hier lediglich eine Zwischenetappe dar. Die Bewusstwerdung der verworfenheit der Liebe, deren Ausformung Kurt Ruh übrigens für den originellsten Beitrag Mechthilds hält4, führt zur freiwilligen Entfernung von Gott als Folge des graduell verlaufenden Entfremdungsprozesses. Als der Aufstieg in einen Abstieg umschlägt, sinkt die Seele in die Tiefe ab. Ihre „sinkende Demut“ lässt sie bis auf den Grund der Hölle fallen, wo sie einen Platz unter Lucifers Schwanz einnimmt.
und bringet si denne an die stat, da si nit fúrbas mag, das ist under Lucifers zagel. Moͤhte si denne in der gerunge nach irem willen gotte ze eren da wesen, da woͤlte si nút fúr nemen. (V, 4, 328)
Der Gedanke, dass die freiwillige, Gott zuliebe erlittene Not eine Steigerung der Liebe bedeutet, lässt sich bei Mechthild relativ früh finden. Einige Forscher5 vermuten hinter dieser systemischen Denkfigur, die im Endeffekt darauf hinausläuft, die angenommene Qual als das schlechthinnige Glück der Seele zu verstehen, einen Nachhall der Idee der resignatio ad infernum . Diese später besonders durch Luther popularisierte Anschauung, die von den Gläubigen sogar bedingungslose Akzeptanz der Verwerfung durch Gott fordert, wird im dritten Buch des Fließenden Lichts als eine „dialektische Versöhnung“6 von Liebe und Erniedrigung thematisiert: „von minnen wirt man schoͤne und lobesam, von smacheit wirt man vil hohe in gotte erhaben“ (III, 24, 220, 222): „Das Heilsgeschehen setzt Freiheit voraus, die resignatio ad infernum ist ein Akt der Selbstverantwortung.“7 Mit ihr schließt die große Epopöe, deren eigentlicher Sinn die Reifung der Seele ist. Sie kann zwar mittelfristig durch die Entbindung vom Körper geschehen; letztendlich führt aber kein Weg an der Selbstaufgabe der Seele vorbei:
Als si alsus ufgestigen ist in das hoͤhste, das ir geschehen mag, die wile si gespannen ist ze irme lichamen, und har nider gesunken ist in das tieffeste, das si vinden mag, so ist si denne vollewahsen an tugenden und an helikeit. (V, 4, 330)
Der hier grob skizzierte Prozess vermittelt zwar erste Einsichten in die eindrucksvolle Spannbreite des Erotischen im Fließenden Licht , sagt aber wenig über den systemischen Ansatz Mechthilds mit all den einzelnen Etappen, Stufen und Facetten aus. Und die Mystikerin entpuppt sich hier als Morphologin und Systematikerin der Liebe, die nach scholastischer Art gern katalogisiert und systematisiert, schlechthin. So unterscheidet und charakterisiert sie u.a. sieben Stationen der Liebe (I, 44), sieben Formen der Gottesliebe (II, 11), sechzehn Arten von Liebe (III, 13), sieben Formen der Liebe (III, 24), zwanzig Wirkkräfte der Gottesliebe (V, 30), zehn Wirkkräfte der Liebe (V, 31), vier Eigenschaften der lauteren Liebe (VI, 30), sieben Aspekte des Liebesbegehrens (VII, 45) u.a.m. Das typologische Dickicht macht den Eindruck, als ginge es um die Fundierung einer Wissenschaft der Liebe, eine Tendenz, deren Ursprung womöglich teilweise in der wissenschaftsfreundlichen Atmosphäre Helftas in der Zeit der Äbtissin Gertrud von Hackeborn zu suchen wäre. Trotz ihrer Überzeugung, dass „wenn der Eifer für die Wissenschaft verloren geht, so werde auch die Pflege der Religion aufhören“8, war das Fließende Licht für das auf dem materialistischen Axiom aufbauende 19. Jahrhundert verständlicherweise schon eindeutig dem „Gebiet der Poesie als der Wissenschaft”9 zuzuordnen:
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