3. Empirische Zugänge zur Pluriarealität – das Projekt ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘
3.1. Gebrauchsstandard als Untersuchungsgrundlage
Die Untersuchungsbasis der ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘ – d.h. das, was man als Standarddeutsch ansehen kann – ist der sogenannte „Gebrauchsstandard“ (Ammon 1995: 88, 94), der auf standardsprachliche Kommunikation abzielende (aber [noch] nicht in Nachschlagewerken kodifizierte) Formen meint. Diese Formen sind pro Areal funktional äquivalent (vgl. Scherr & Niehaus 2013: 78–79), d.h. areal unterschiedliche Varianten haben die gleiche Funktion, der Kommunikation auf Standarddeutsch zu dienen, und befinden sich deshalb alle innerhalb des Standarddeutschen (das gilt nicht nur arealübergreifend, sondern auch für Mehrheits- und Minderheitsvarianten innerhalb eines Areals). Genau genommen gibt es also nicht den Gebrauchsstandard, sondern mehrere Gebrauchsstandards, wobei nach pluriarealer Vorstellung die Anzahl dieser nicht von vornherein fest ist (im Gegensatz zum nach Nationen einteilenden plurizentrischen Ansatz). Diese Definition von Standarddeutsch geht vom Sprecher und Schreiber, nicht vom Rezipienten aus.
Die Vorgehensweise des Projekts ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘, die ich im Folgenden näher erläutere, beschränkt sich auf die geschriebenen Gebrauchsstandards des zusammenhängenden deutschsprachigen Raums. Ich gehe hier noch weiter auf die Eingrenzung geschriebener Gebrauchsstandards ein, indem ich die Quellenauswahl begründe. Die areale Zusammensetzung bzw. Sektoralisierung der Quellen beschreibe ich dann im folgenden Schritt, im Kapitel über das Korpusdesign.
Es besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber, dass man das Deutsch, das in Zeitungen verwendet wird, als Standarddeutsch klassifizieren kann. Eisenberg (2007: 217) will dies noch auf überregionale Zeitungen beschränkt wissen. Diese Beschränkung scheint nicht ganz nachvollziehbar, wenn man der Definition des Gebrauchsstandards folgt, denn Eisenbergs Quellenauswahl suggeriert, der Sportteil der Frankfurter Allgemeinen wäre standarddeutsch, der Politikteil einer Regionalzeitung hingegen nicht unbedingt (vgl. Dürscheid et al. 2011: 126). Auch andere Gründe sprechen gegen die Beschränkung auf überregionale Zeitungen: So scheint es durchaus zulässig, nicht nur die relativ kleine schreibende Elite der Journalisten, sondern auch die große Menge regionaler Journalisten in den Blickpunkt einer Analyse zu rücken. Dass diese in Zeiten, da in der öffentlichen Kommunikation in Ländern mit Deutsch als Amtssprache kaum eine andere Varietät als Standarddeutsch akzeptiert wird, tatsächlich nicht standarddeutsch schrieben, erscheint äußerst unrealistisch (und entspricht außerdem wohl kaum ihren Intentionen).
Hinzu kommt noch ein weiterer Vorteil bei der Analyse von Regionalzeitungen: eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, überhaupt auf areale Varianten der deutschen Standardsprache zu stoßen. Denn, so meint etwa Hugo Moser, diese fänden sich „vor allem im Deutsch der Zeitungen, namentlich in den regionalen, viel weniger in den überregionalen und auch für Leser anderer Gebiete bestimmten Blättern wie im wissenschaftlichen und schönen Schrifttum“ (Moser 1982: 328).1 Gerade also, wenn man Antworten auf die Frage nach der Arealität des Standarddeutschen sucht, sollte man sich auf die Regionalzeitungen konzentrieren – auch, um etwa Entscheidungen zugunsten eines arealen Modells (Plurizentrik vs. Pluriarealität) auf empirischer statt politischer Basis zu fällen.
3.2. Korpusdesign und korpuslinguistische Methodik
Die ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘ hat zum Ziel, eine Grammatik in Form eines stichwort-alphabetischen Nachschlagewerks vorzulegen, das für Laien wie für Forscher gleichermaßen verständlich und zugänglich ist. In einem ersten Schritt wird dazu zunächst online ein Wiki erstellt, das derzeit mit Lemmaeinträgen gefüllt wird1 und bisher in geschlossener Form betrieben wird, schließlich aber öffentlich einsehbar sein soll. Eine Printversion ist ebenfalls angestrebt.
Abb. 2: Screenshot des ‚Varianten-Wiki‘
Die ‚Variantengrammatik‘ bezieht ihre Daten aus einem kompilierten Großkorpus, das Crawls aus 69 Online-Regionalzeitungen (ca. 600 Mio. Textwörter, 1699115 einzelne Zeitungsartikel) der Zeit 2012–2013 umfasst. Dabei wurden die Regionalzeitungen nach einem Arealschlüssel gesammelt, der in Tab. 1 wiedergegeben ist.
Diese Einteilung orientiert sich – mit einigen kleineren Abweichungen – am VWB (vgl. Ammon et al. 2004: XVIII-XIX). Allerdings ist die Einteilung im ‚Variantengrammatik‘-Projekt datengesteuert und somit dynamisch handzuhaben, sowohl in ihrer grundsätzlichen Gliederung als auch im Einzelfall: So wird etwa die Schweiz nicht weiter in Kantone oder dialektale Kleinräume untergliedert. Eine dialektale Gliederung wurde zunächst im Korpusdesign des Projekts verankert, dann jedoch aufgegeben, weil eine solche Untergliederung nicht statistisch abgesichert nachgewiesen werden konnte.
Arealbezeichnung |
Regionen |
Deutschland Nordwest |
Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen |
Deutschland Nordost |
Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg (ohne Region Niederlausitz), Berlin, Region Altmark (Sachsen-Anhalt), Region Magdeburger Börde (Sachsen-Anhalt), Landkreis Jerichower Land (Sachsen-Anhalt) |
Deutschland Mittelwest |
Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz (ohne Region Rheinpfalz), Hessen |
Deutschland Mittelost |
Region Harz (Sachsen-Anhalt), Region Halle (Saale) [Sachsen-Anhalt], Thüringen, Sachsen, Region Niederlausitz (Brandenburg) |
Deutschland Südwest |
Rheinpfalz (Rheinland-Pfalz), Saarland, Baden-Württemberg |
Deutschland Südost |
Bayern |
Österreich West |
Vorarlberg, Tirol (inkl. Osttirol), Bezirk Zell am See/„Pinzgau“ (Bundesland Salzburg) |
Österreich Mitte |
Bundesland Salzburg (ohne Bezirk Zell am See/„Pinzgau“), Oberösterreich |
Österreich Südost |
Kärnten, Steiermark |
Österreich Ost |
Wien, Niederösterreich, Burgenland |
Schweiz |
gesamt |
Ostbelgien |
gesamt |
Liechtenstein |
gesamt |
Luxemburg |
gesamt |
Südtirol |
gesamt |
Tab. 1: (derzeitige) Einteilung der deutschsprachigen Regionen in Areale im ‚Variantengrammatik‘-Projekt
Eine pluriareale innerschweizerische Gliederung kann bislang nicht (statistisch) bestätigt werden;2 die areale Grundgliederung wurde entsprechend im Projektverlauf angepasst. Dadurch, dass die Sitze der jeweiligen Zeitungen als Metadaten erhoben wurden, sind von Fall zu Fall sogar noch kleinräumigere Einteilungen möglich (etwa, wenn die Zeitungen aus Altbayern – also nur einem Teil des Areals Deutschland Südost – und Österreich einen ähnlichen Sprachgebrauch aufwiesen). Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist evident: Nationale Grenzziehungen im plurizentrischen Sinne sind dank der Annotation der jeweiligen Ländernamen weiterhin möglich, aber solche Grenzziehungen sollen nur noch dort zum Einsatz kommen, wo sie tatsächlich quantitativ nachweisbar sind. Dass dabei bisher ‚nur‘ die Schweizer Areale (ursprünglich unterschied das Projektteam in West, Ost und Süd) wieder zusammengefasst worden sind, lässt an dieser Stelle bereits erahnen, dass die pluriareale Anlage für Deutschland und Österreich bisher der Empirie angemessener scheint. (Dazu gleich mehr, wenn es um einzelne Phänomene geht.) Abschließend hierzu sei noch thematisiert, dass auch die ‚regionalen‘ Einteilungen mehrheitlich geopolitische sind, sich nämlich an Bundesländern und Bezirken orientieren. Man kann dies mit einer radikalen Auslegung des pluriarealen Ansatzes durchaus kritisieren und stattdessen rigoros historische und dialektale Sprachräume als Areale fordern (wobei sich auch diese ja ebenfalls bereits in historischen politischen Einheiten ausgeprägt haben können). Bedenkt man jedoch, dass Standarddeutsch (v.a. in Deutschland) zu einem beträchtlichen Teil in föderalen Schulstrukturen vermittelt wird, sich zudem (v.a. in Österreich) kulturelle Schranken mit kleineren politischen decken können (z.B. im Falle des Salzburger Pinzgaus, der anders als das übrige Salzburger Land sprachlich-kulturell eher dem Westen Österreichs zuzuordnen ist) und außerdem die Verbreitung der Printversionen der herangezogenen Zeitungen mit kommunalen oder Landesgrenzen zusammenfallen kann (v.a. bei ehemaligen DDR-Bezirks-Zeitungen, die heute als Regionalzeitungen weiterbestehen3), macht eine Einteilung nach Bundesländern und Bezirken durchaus Sinn.
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