Standardsprache zwischen Norm und Praxis
Theoretische Betrachtungen, empirische Studien und sprachdidaktische Ausblicke
Winifred V. Davies / Annelies Häcki Buhöfer / Regula Schmidlin / Melanie Wagner / Eva Lia Wyss
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-7720-0024-9
Plurizentrik revisited – aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache
Regula Schmidlin, Eva L. Wyss & Winifred V. Davies
Im deutschen Sprachraum finden sich unterschiedliche Konstellationen von Standardvarietäten, Umgangssprachen und Dialekten. Diese bestehen aus mündlichen und schriftlichen Repertoires, welchen die Sprecherinnen und Sprecher bestimmte Einstellungen entgegenbringen. Im vorliegenden Band fokussieren wir die Standardsprache in ausgewählten Regionen Deutschlands, in der Deutschschweiz, in Österreich, Luxemburg, Südtirol und Ostbelgien. Diese weist auf allen linguistischen Ebenen Besonderheiten auf und unterliegt unterschiedlichen Verwendungsbedingungen. Die Diskussion, wie die Variation der Standardsprache in den deutschsprachigen Ländern theoretisch adäquat beschrieben werden kann, wird schon lange geführt. Sie intensivierte sich ein erstes Mal in den 1980er Jahren im Kontext der Plurizentrikdebatte1 und wird seit dem Erscheinen des Variantenwörterbuchs des Deutschen (Ammon et al. 2004, Ammon et al. 2016) auch im Hinblick auf empirisch-lexikographische Fragestellungen in verschiedenen Expertenkreisen geführt. Der monozentrische Blick auf die deutsche Sprache, der von einer geographischen Lokalisierbarkeit der Standardsprache ausging, wich der Fokussierung auf verschiedene so genannte Zentren (Ammon 1995), die aufgrund politisch und historisch autonomer Entwicklung eigene Varietäten hervorbrachten. Dies ist auch daran ersichtlich, dass zumindest teilweise zentrumseigene Kodices aus dieser Entwicklung hervorgingen und es damit zur Endonormierung der Standardsprache in den jeweiligen Zentren kam. Dem plurizentrischen Konzept mit einer plurinationalen Ausprägung (z.B. Clyne 1995) wurde sodann das pluriareale Konzept (Scheuringer 1996) mit einer regionalen Ausprägung kritisch gegenübergestellt. Die Unterschiede zwischen diesen Konzepten lassen sich folgendermassen beschreiben: Das plurizentrische Konzept geht davon aus, dass es gleichwertige, von staatlichen Grenzen beeinflusste (nationale) Standardvarietäten des Deutschen gibt und auch in so genannten Halbzentren (Südtirol, Liechtenstein, Luxemburg und Belgien) standardsprachliche Besonderheiten der deutschen Sprache zu finden sind; Ammon (1995) entwickelte ein theoretisch und terminologisch differenziertes Modell, das neben dem Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004, 2016) eine Reihe von empirisch fundierten Arbeiten zur Folge hatte (z.B. Markhardt 2005, Ransmayr 2006, Schmidlin 2011, Wissik 2014). Das Variantenwörterbuch dokumentiert auch länderübergreifende und regionale Phänomene, wobei für den bundesdeutschen Raum gemeinhin sechs und für Österreich vier regionale Räume angenommen wurden.2 Das pluriareale Konzept (vgl. Ammon 1998) hingegen wurde zunächst in den 1990er Jahren, bisweilen sehr emotional (vgl. Scheuringer 1996, Seifter & Seifter 2015), als eine konzeptuelle und sprachenpolitische Gegenposition vorgebracht, ohne dass eine weitergehende theoretische Ausarbeitung und ein systematisches Begriffsinventar zur Analyse entwickelt wurden (Glauninger 2015). Im Gegenzug zum plurizentrischen Zugang betont man aus pluriarealer Perspektive sprachliche Unterschiede gerade innerhalb Deutschlands zwischen Norden und Süden oder innerhalb Österreichs zwischen Osten und Westen und führt die zahlreichen grenzüberschreitenden Gemeinsamkeiten auf, z.B. Übereinstimmungen zwischen Süddeutschland, Österreich und der Schweiz oder zwischen Westösterreich und Südostdeutschland oder zwischen Vorarlberg, Liechtenstein und der Schweiz. Auf dieser Basis hat sich im Rahmen detaillierter empirischer linguistischer Analysen, auch im Zuge der Weiterentwicklung der Korpuslinguistik, eine neue Ausprägung des pluriarealen Ansatzes entwickelt, der zwar, soweit Publikationen vorliegen, theoretisch (noch) nicht so ausgebaut und terminologisch ausdifferenziert ist wie die plurizentrische Theorie, der aber gewichtige empirische Befunde für eine pluriareale Konzeptualisierung des Deutschen vorlegt (s. Elspaß & Niehaus 2014, Dürscheid, Elspaß & Ziegler 2015, Niehaus in diesem Band). Anhand konkreter empirischer Analysen zur Variation in der Grammatik des Standarddeutschen (z.B. dem Gebrauch des Adjektivs n-jährig oder diskontinuierlicher Richtungsadverbien) wird argumentiert, dass der pluriareale Zugang standardsprachliche Variation adäquater erfassen kann als der plurizentrische und auch die Dynamik der Variation besser zum Ausdruck bringt (Herrgen 2015, Niehaus in diesem Band).
In diesem theoretischen Spannungsfeld – und darüber hinaus – widmet sich der vorliegende Band der vertieften Reflexion und theoretischen Weiterentwicklung des Begriffsinventars, der Untersuchung spezifischer soziolinguistischer Praktiken und Bewertungsmuster in Bezug auf die Varietäten der deutschen Standardsprache. Die Beitragssammlung gliedert sich in vier Teile mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Während im ersten Teil stärker theoretische Aspekte wie zum Beispiel die Frage nach der Bestimmung und Abgrenzung von Standardsprachen gegeneinander sowohl aus plurizentrischer als auch pluriarealer Perspektive diskutiert werden (Durrell, Schmidlin, Niehaus, Möller), gibt der zweite Teil Einblicke in neuere empirische Studien, die an der Schnittstelle zwischen Norm und schulischer Praxis zu Forschungsergebnissen zu den Standardvarietäten in Österreich, Deutschland, Luxemburg, Südtirol und der Deutschschweiz geführt haben (de Cillia, Fink & Ransmayr; Davies; Wagner; Wyss; Glaznieks & Abel). Im dritten Teil des Bandes wird die Diskussion sowohl in Richtung Bildungswissenschaft als auch in Richtung Literaturwissenschaft geöffnet: Darin werden Fragen zum schulischen Normvermittlungserfolg und zu geographisch-territorialen Aspekten literarischer Kanonisierung behandelt (Gehrer, Oepke & Eberle; Neuhaus). Im vierten Teil werden sprachdidaktisch relevante Überlegungen zur Bewertung von Varianten vorgestellt – in Abhängigkeit von Sprachbewusstheit und Sprachwissen sowie in Abhängigkeit weiterer, aussersprachlicher Faktoren (Peter, Gatta). Abgeschlossen wird der vierte Block mit einem Beitrag zur Thematisierung von Teutonismen in Lernerwörterbüchern (Scanavino).3
Im Folgenden werden die Hauptargumentationslinien der Beiträge kurz skizziert.
I. Theoretische Betrachtungen
Im einleitenden Beitrag dieses Bandes stellt Martin Durrellzwei Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum des 18. und 19. Jahrhunderts zur Diskussion. Da ist zunächst die Annahme, dass die deutsche nationale Identität eine ethnolinguistische Basis hat und dann der daraus resultierende Topos, dass in Deutschland die sprachliche Einheit der politischen Einheit vorausging und die unabdingbare Voraussetzung für diese bildete. Durrell argumentiert, dass der Mythos einer grundlegenden, homogenen Sprache dazu beiträgt, dass die faktische Heterogenität der deutschen Sprache (vor allem auf mündlicher Ebene) ausser Acht gelassen wird und dass man sich auf die standardisierte schriftliche Varietät des Deutschen bezieht, wenn man die Sprache als Symbol der nationalen Identität instrumentalisiert. Dieser Mythos der einheitlichen Sprache hat auch die Perzeption des Deutschen als monozentrischer Sprache geprägt. Ferner zeigt Durrell mit Bezug auf neuere historische Untersuchungen des „Alten Reichs“, dass die sprachliche Einigung doch in einem Staatsgebilde stattfand, mit dem sich die Bildungselite identifizierte und das sich nicht so stark von einem modernen Nationalstaat unterschied, wie oft angenommen wird.
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