Daneben werden aber auch im öffentlichen Raum – in Politik, Sport, Musik oder auch an Universitäten – Rituale vermehrt entwickelt bzw. werden (wieder) als solche erkannt. Diesbezüglich ist gelegentlich die These zu hören, alle Gesellschaften seien gleichermaßen ritualisiert, sie würden lediglich unterschiedliche Rituale praktizieren. Burke mahnt diesbezüglich an, dass es wesentlich schwieriger sei, eigene Rituale zu erkennen als die der anderen, und empfiehlt daher, lediglich die Einstellung gegenüber Ritualen in der eigenen Gesellschaft zu beschreiben.12 Er kommt dabei zu dem Schluss: „Selbst wenn viele Menschen Rituale weiterhin ernst nehmen und es möglich ist, daß neue Medien […] auf ihre Art zur Mystifikation von Autoritäten beitragen, so steht dennoch fest, daß eine distanzierte, ja ablehnende Einstellung zu ‚bloßen‘ Ritualen in der westlichen Kultur feste und tiefe Wurzeln geschlagen hat.“13
Als aktuelle Grundtendenzen moderner Gesellschaften – ob evangelisch geprägt oder nicht – lässt sich dennoch festhalten: 1) Es entsteht eine Vielzahl neuer Rituale, sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum. 2) Teilweise wird dazu auf alte Ritualformen und -abläufe zurückgegriffen. 3) Die privaten Rituale, sowohl von einzelnen, als auch Familien und kleineren Gruppen reagieren dabei häufig auf veränderte gesellschaftliche Herausforderungen und versuchen, diese mit Hilfe von Ritualen zu bewältigen. 4) Neuere Rituale in Politik, Medien oder auch Sport scheinen ebenfalls auf die sich verändernde Gesellschaft, ggf. den Rückgang allgemeingültiger und allgemein praktizierter Rituale zu reagieren. Dass die Trauerzeremonien am Ground Zero wesentliche Elemente kirchlicher Trauerfeiern oder auch das allsamstagliche Fangebaren in deutschen Fußballstadien auffällige Ähnlichkeiten mit einer Gottesdienstliturgie hat, mag als Indiz dafür gelten.
Mit dieser kontroversen gesellschaftlichen Entwicklung geht seit einigen Jahrzehnten die zunehmend systematisierte wissenschaftliche Erforschung von Ritualen einerseits innerhalb unterschiedlicher Forschungsgebiete14 und andererseits als eigenständiges und doch stets interdisziplinäres Forschungsgebiet, den sog. „Ritual Studies“ bzw. „Ritualwissenschaften“, einher.15 Als maßgebliche Protagonisten seien hier nur exemplarisch genannt Catherine Bell,16 Mary Douglas,17 Roy Rappaport,18 Jonathan Z. Smith,19 Victor W. Turner20 und Arnold van Gennep.21 Gesondert ist auf Ronald L. Grimes22 zu verweisen, welcher 2005–2010 den weltweit ersten Lehrstuhl für Ritual Studies an der Radboud University Nijmegen (Niederlanden) innehatte.
Wie diese vielfältigen modernen Ansätze so können auch die antiken Ritualtheorien hier nicht ausführlich dargestellt werden. Genannt werden sollen aber immerhin die bekanntesten Protagonisten in diesem Bereich: Philon und Plutarch, v.a. Αἰτίαι Ῥωμαϊκαί, Αἰτίαι Ἑλλήνων. Anders als in den eher schlichten neutestamentlichen Paränesen spielen bei ihnen umfangreiche ethische und moralphilosophische Kultdeutungen eine wesentliche Rolle.23
Viele Kontroversen wie auch die Vielfalt der Theorien innerhalb der Ritualwissenschaften gründen im Fehlen einer konsensfähigen Definition für den Untersuchungsgegenstand „Ritual“. Einen ersten Hinweis auf der Suche nach dem „Wesen“ eines Rituals bietet die Begriffsgeschichte.
1.1.1 Die sprachliche Wurzel des Rituals
Die Bezeichnungen, welche sich in den europäischen Sprachen finden, gehen beinahe alle auf das lateinische Adjektiv ritualis bzw. das Nomen ritus zurück, welches „Brauch, Sitte, Gewohnheit“ meint.1 Eine rite vollzogene Handlung wurde in der festgelegten Form ausgeführt. Die etymologische Wurzel ist nicht eindeutig: Die zwei gemeinhin angeführten Möglichkeiten betonen entweder die „auf Regelmäßigkeit beruhende Struktur“ (von sanskrit. r̥ta ) oder, etwas neutraler, den Verlauf einer Handlungsabfolge (von indogerm. ri ).2 Die regelmäßige wie die prozessuale Charakteristik scheinen zwei Elemente zu sein, die sich bis in den heutigen Sprachgebrauch des „Rituals“ durchziehen. Bei der Übernahme in die modernen indogermanischen Sprachen entwickelt sich der Begriff jedoch sehr schnell zum terminus technicus und Schlüsselbegriff in verschiedenen Zusammenhängen, so etwa im Deutschen3 oder auch Englischen.4
Die zunächst scheinbar verheißungsvolle Feststellung, dass die einschlägigen Begrifflichkeiten in so vielen der europäischen Sprachen sich auf eine gemeinsame Wurzel, nämlich das lateinische ritus zurückführen lassen, „does not imply semantic and pragmatic continuity“.5 Will man dem ursprünglichen Sinn des Begriffes auf die Spur kommen, ist vielmehr nach semantisch-pragmatischen Synonymen zum heutigen Ritualbegriff zu fragen – mit Blick auf den Gegenstand der Arbeit – über das Lateinische ritus hinausgehend speziell im (neutestamentlichen) Griechischen: „The (ancient) Greek language does not have a word that corresponds to the modern notion of a ‚ritual‘.“6 Chanoitis meint vielmehr, verschiedene Arten von Entsprechungen für „Ritual/ritual” ausmachen zu können: zum einen Wörter, welche einzelne Rituale bezeichnen (θυσία, ἐναγισμός, σπονδή), zum anderen Begriffe, die – aus dem semantischen Feld „to act“ / „action“ stammend – in einem allgemeineren Sinne Rituale bezeichnen können (ἱερὰ ποιεῖν, θεραπεύειν τοὺς θεούς), und davon wiederum abgegrenzt weitere Begriffe, welche beinahe ausschließlich im Zusammenhang mit Mysterienreligionen und Initiationen belegt sind (τελεῖν, δρόμενα, ὄργια). „Instead of using a word that corresponds to our notion of a ritual, the Greeks often use the general term tà nomizómena (‚the actions prescribed by custom‘) in order to refer to ritual actions, not only of a religious nature.“7
1.1.2 (Ansätze zu) Ritualdefinionen
Wie das Griechische unterschiedliche Termini verwendet und das lateinische ritus bereits zwei grundlegende Bedeutungstendenzen beinhaltet, so lassen sich auch in den heutigen Ritualwissenschaften nicht allein unterschiedliche Ritualdefinitionen, sondern kategorial verschiedene Ansätze, ein Ritual zu definieren, ausmachen, welche hier lediglich in einer kleinen Auswahl dargeboten werden können:1 1) Einige Ritualdefinitionen beschreiben in Form von Nominalsätzen das Wesen von Ritualen.2 2) Andere Ritualdefinitionen sind von Negativbestimmungen geprägt.3 3) Wieder andere heben auf den Handlungsaspekt eines Rituals ab.4 4) Das Ritual wird selbst als Handlungsweise verstanden.5 5) Externe Intentionen haben Einfluss auf die Definition, wie etwa die Absicht rituelle Phänomene maximal zu erfassen6 oder auch die Abwehr dessen.7
Die Problematik führt einige Forscher schließlich dazu, „not to define ‚ritual‘ explicitely (forgetting that they do have some idea of what a ‚ritual‘ is anyway), or to argue against the use of the term altogether!“8 Stollberg-Rilinger hält solchen Tendenzen wiederum entgegen: „Es ist aber weder möglich noch notwendig, ja nicht einmal wünschenswert, sich auf eine einzige, ‚richtige‘ und ‚endgültige‘ Definition zu einigen. Deshalb ist die Geschichte der Ritualforschung immer zugleich eine Geschichte unterschiedlicher Ritualdefinitionen.“9 In diesem Sinne sollen die verschiedenen Ritualdefinitionen in ihrer Weite und Vielfalt an dieser Stelle stehen bleiben, und „Ritual“ mit Grimes grundsätzlich verstanden werden als ritualisiertes Handeln, dessen Ritualisierungsgrad unterschiedlich hoch sein kann.
Diese recht allgemeine Definition genügt an dieser Stelle, insofern bei keinem der in dieser Arbeit untersuchten Rituale ein Zweifel daran besteht, dass sie tatsächlich als Rituale gelten können. Sowohl die besprochenen Taufen, als auch die zum Vergleich herangezogenen sonstigen Wasserrituale, die Beschneidung wie auch die gelegentlich thematisierten Mysterieneinweihungen stellen Rituale dar. Zu diskutieren sind vielmehr ritologische Sachfragen, wie Möglichkeit und Umstände von Ritualentwicklungen oder auch Ritualkritik sowie die Ritualkategorie. Dort hat auch der methodische Fokus bezüglich zu befürchtender Engführungen zu liegen, nicht aber auf der Ritualdefinition im Allgemeinen. Daher werden im Folgenden nach einer Übersicht über mögliche Ritualklassifikationen mit Blick auf die christliche Taufe und ihre Entstehung offensichtlich relevante Sonderfragen der Ritualwissenschaften dargestellt.
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