Was die Konstruktion der GeR-Skalen betrifft, wird diesen gegenüber vor allem der Vorwurf erhoben, dass sie nicht auf der Analyse von realen Sprachhandlungen von Lernenden beruhen und sich auf keine empirische Basis von Lernerperformanzen berufen können (vgl. u.a. Harsch 2005, 184f.). Vielmehr wurden verschiedene Modelle kommunikativer Sprachkompetenz (insbesondere Bachman 1990; Canale & Swain 1980; Canale 1983; Hymes 1971 u.a.) grundgelegt und ca. 40 bereits vorliegende Skalen zur Sprachkompetenzbeschreibung2 herangezogen, wie z. B. die ACTFL Guidelines ( American Council on the Teaching of Foreign Languages ). So entstanden DeskriptorenentwürfeSkalenentwicklung durch Bewertung bestehender Deskriptoren und Basierung auf verschiedene Modelle kommunikativer Sprachkompetenz, die in Folge in mehreren Verfahren mit dem Erfahrungswissen von Lehrpersonen abgeglichen3 und auf ihre Tauglichkeit überprüft wurden. In einem nächsten Schritt wurden die so bearbeiteten DeskriptorenDeskriptor weiteren ca. 300 Lehrpersonen in einer Fragebogenerhebung vorgelegt, damit diese die sprachlichen Leistungen ihrer über 2000 Lernenden anhand dieser Deskriptoren einschätzen konnten. Die so erhaltenen Einschätzungen der Deskriptoren wurden mithilfe des Rasch-Modells statistisch analysiert und skaliert (vgl. Harsch 2005, 179)4. Alle an diesem Prozess beteiligten Lehrpersonen stammten aus der Schweiz. Die herangezogenen Lernerleistungen bezogen sich auf die Fremdsprachen Englisch, Deutsch und Französisch. Der innovative Schritt, den North (2000) in der Erarbeitung der Skalen setzt, liegt vor allem darin, dass bestehende Skalenbeschreibungen unter Zuhilfenahme von Einschätzungen durch Lehrpersonen mit Sprachmodellen kombiniert werden, die kommunikativen Kompetenzen Rechnung tragen. Damit gelingt North ein Transfer des Postulats der HandlungsorientierungHandlungsorientierung in konkrete Sprachniveaubeschreibungen5.
Der Konstruktion der GeR-Skalen liegen also sowohl Kategorien aus der angewandten Sprachwissenschaft als auch Kategorien aus der Berufserfahrung von Lehrpersonen zugrundeDie GeR-Skalen basieren nicht auf Analysen empirisch erhobener Lerneräußerungen, sondern auf der Einschätzung von Lehrpersonen. (North 2014, 231). Die so entstandenen DeskriptorenDeskriptor/GeR-Skalenbeschreibungen werden einerseits in den übergeordneten Rahmen der Sprachverwendung, andererseits in die Kompetenzen der Sprachverwendenden eingebettet. Während erstere im Kapitel 4 des GeR dargelegt und beschrieben werden, umfassen zweitere das Kapitel 5.
Die Sprachverwendung untergliedert sich in folgende sechs Bereiche:
Kontext der Sprachverwendung
Themen der Kommunikation
Kommunikative Aufgaben und Ziele
Kommunikative Aktivitäten und Strategien
Kommunikative Sprachprozesse
Texte.
Deskriptorenskalen finden sich nur für den Bereich Kommunikative Aktivitäten und Strategien und die darin enthaltenen Teilbereiche Produktive Aktivitäten und Strategien, Rezeptive Aktivitäten und Strategien sowie Interaktive Aktivitäten und Strategien (s. Abb. 1).
Abb. 1: Teildarstellung des GeR, Kapitel 4: Sprachverwendung, Sprachverwender und Sprachlernende
Für die Kompetenzen der Sprachverwendenden beschreibt der GeR sowohl allgemeine als auch kommunikative Sprachkompetenzenkommunikative Sprachkompetenzen. Während die allgemeinen Sprachkompetenzen sich auf verschiedene Wissensbereiche beziehen und insbesondere interkulturelle Aspekte aufnehmen, finden sich bei den kommunikativen Sprachkompetenzen drei Unterbereiche: linguistische, soziolinguistische und pragmatische Kompetenz (s. Abb. 2). Deskriptorenskalen liegen nur für die kommunikativen, nicht jedoch für die allgemeinen Kompetenzen vor.
Abb. 2: Teildarstellung des GeR, Kapitel 5: Die Kompetenzen des/der Sprachverwendenden/-lernenden
Insgesamt stellt der GeR an die 40 Skalen für kommunikative Aktivitäten und Strategien (Kapitel 4 des GeR) sowie 13 Skalen für kommunikative Sprachkompetenzen (Kapitel 5 des GeR) bereit. Darüber hinaus finden sich eine übergreifende Globalskala, ein Selbstbeurteilungsraster und ein Beurteilungsraster zur mündlichen Kommunikation (Kapitel 3 des GeR).
Nicht alle Niveaubeschreibungen haben den oben erwähnten Entstehungsprozess durchlaufen. Dies trifft insbesondere auf die DeskriptorenDeskriptor, die sich auf die Fertigkeit Schreiben beziehen (vgl. Europarat 2001, 212), sowie auf ca. die Hälfte der C2-Deskriptoren zu (North 2014, 230). Im GeR ist dies jeweils unter der betreffenden Skala ausgewiesen.
Dass die GeR-Sprachniveaubeschreibungen nicht auf Ergebnissen von Analysen empirisch erhobener Lerneräußerungen beruhen, bleibt eine ebenso ernstzunehmende wie gerechtfertigte Kritik, die zunächst jedoch durch den zeitlichen Entstehungskontext des GeR und die zur damaligen Zeit unzulängliche Forschungslage im Fremdsprachenerwerb erklärt werden kann (vgl. North 2007, zitiert in Papageorgiou 2016, 337). Dass jedoch auch in der gegenwärtig durchgeführten Überarbeitung bestimmter GeR-Skalen darauf verzichtet wird, mittlerweile vorliegende Ergebnisse aus der Spracherwerbsforschung zu berücksichtigen, ist wenig nachvollziehbar (s. auch Kapitel 3). Liegen doch zumindest mit den Forschungen von Pienemann und seinem Team zu Englisch (Keßler 2006; Keßler, Lenzing & Liebner 2016; Pienemann 1998), von Diehl et al. (2000) zu Deutsch als Fremdsprache in der französischsprachigen Schweiz oder zu Französisch als Fremdsprache im schwedischen Kontext (Bartning & Schlyter 2004; Schlyter 2003) Spracherwerbsresultate für die Entwicklung morphosyntaktischer Bereiche der Lernersprache vor, die berücksichtigenswert erschienen.
Das umfassendste Projekt in dieser Hinsicht ist English Profile English Profile – The CEFR for English , mit dessen Erarbeitung 2006 begonnen wurde (Barker 2016, 33) und das nun erste Analyseergebnisse online zugänglich macht ( https://tinyurl.com/yavl7gtt[21.09.2017]). In diesem Projekt werden reale Lerneräußerungen für Englisch als Fremdsprache gezielt mit GeR-Skalenbeschreibungen abgeglichen (vgl. u.a. Harrison & Barker 2015; Hulstijn 2014, 14f.; North 2016, 230). Es beeindruckt durch ein umfassendes, weltweit erhobenes Korpus an Sprachperformanzen von EnglischlernerInnen. Konkrete Performanzanbindungen liegen in den Bereichen Wortschatz und Grammatik für alle sechs GeR-Niveaus vor ( English Vocabulary Profile , English Grammar Profile ). Ob und wie diese Ergebnisse die Skalenbeschreibungen modifizieren werden, bleibt abzuwarten.
Kurz umrissen seien hier die kürzlich finalisierten Überarbeitungen des GeR (Council of Europe 2017). Diese beziehen sich sowohl auf Neu- als auch auf WeiterentwicklungenNeue GeR-Skalen werden entwickelt, bestehende weiterentwickelt. von bestehenden GeR-Skalen. Neu erstellt wurden Niveaubeschreibungen für die Bereiche Sprachmittlung respektive Mediation, für mehrsprachigkeitsbasierte Sprachlernaspekte, für Literatur- und Kunstanalysen sowie -kritik und für Online-Kommunikationsaktivitäten. Weiter entwickelt wurden DeskriptorenDeskriptor für die Niveaustufen A1, C1 und C2 (vgl. North & Panthier 2016). Die Vorgangsweise entspricht dabei jener, die bereits bei der ursprünglichen Erarbeitung eingesetzt wurde (vgl. auch North & Docherty 2016). Interessant erscheint, dass sich an die 1000 Personen weltweit beteiligt haben und 45 Länder repräsentiert waren (ebd.). Das in der ursprünglichen Form auf die Schweiz begrenzte Projekt hat sich also deutlich vergrößert und verweist damit auch auf die hohe Wirkkraft, die der GeR international entfalten konnte.
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