Kreativität und Hermeneutik in der Translation
Larisa Cercel / Marco Agnetta / María Teresa Amido Lozano (Hrsg.)
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ePub-ISBN 978-3-8233-0015-1
Professor Alberto Gil zugeeignet
Kreativität – Verstehen – Interpretation. Multiperspektivische Annäherungen an einen translatorischen Nexus
Larisa Cercel / Marco Agnetta / María Teresa Amido Lozano (Saarbrücken)
Die Kreativität ist in der Übersetzungswissenschaft zu einem erstrangigen Konzept avanciert. Nach den Forschungen der 1990er Jahre, die den Wert der Kreativität in der Translation aufarbeiteten und für die stellvertretend Paul Kußmauls Kreatives Übersetzen (2000) zu nennen ist, nimmt sie gegenwärtig eine zentrale Position in der Translationsprozessforschung ein. Als Schlüsselbegriff der translatorischen Kompetenz wird sie in ihr eigens gewidmeten Abhandlungen wie Gerrit Bayer-Hohenwarters Translatorische Kreativität (2012) verstärkt systematisch analysiert und empirisch gestützt. Vor dem Hintergrund einer systemischen Sichtweise und interdisziplinären Orientierung wird die Erarbeitung eines Kreativitätskonzepts angestrebt, das ein breites Spektrum kreativer übersetzerischer Leistungen erfasst. Die Erkenntnis, dass Kreativität nicht nur beim Übersetzen literarischer Werke benötigt wird, bildet die Grundlage für die Entwicklung neuer Modelle der translatorischen Kompetenz.
Zu dieser grundlagentheoretischen Ebene gehört die Betrachtung der übersetzerischen Kreativität in Verbindung mit den (eminent hermeneutischen) Begriffen des Verstehens und Interpretierens: Die Textvorlage verstehen, sie auslegen, um sie dann angemessen kreativ in der Zielsprache wiedergeben zu können, ist ein translatorisches Grundverhalten. Prägend für dieses Verhalten ist die ambivalente Bindung des Übersetzers an das Original: Sie hemmt und fordert zugleich heraus, mahnt zur Zurückhaltung und lädt zum Wagnis ein. Der vorliegende Sammelband erkundet den kreativ-interpretativen Spielraum des Übersetzers im Rahmen dieser gespannt-spannenden Beziehung und beleuchtet ihn aus den unterschiedlichen Perspektiven der Rhetorik, Literatur, Hermeneutik, Philosophie, Linguistik und Translationswissenschaft. Abgerundet wird der Band durch einen Blick auf den Berufsalltag der Übersetzer, deren Kreativität über textuelle Aspekte hinaus auch bei der Gestaltung der eigenen Tätigkeit in verschiedenen translatorischen Arbeitskontexten gefordert wird.
Die Beiträge bieten Zugänge zu unterschiedlichen Dimensionen der translatorischen Kreativität: Sie setzen sich mit begrifflichen Aspekten (Michael Schreiber, Marcelo Tápia, Marco Agnetta / Larisa Cercel) bzw. mit der Übersetzung von Begriffen (Douglas Robinson) auseinander, eruieren Quellen der translatorischen Kreativität (Radegundis Stolze, Vahram Atayan) und Methoden ihrer Förderung (John Wrae Stanley), beleuchten Mechanismen ihrer Entstehung (Gerrit Bayer-Hohenwarter, Paulo Oliveira) und ihren grundlegend aporetischen Charakter (Jean-René Ladmiral), schlagen neue Modelle für deren wissenschaftliche Erfassung (Mathilde Fontanet) sowie von routiniertem Verhalten (José Manuel Martínez Martínez / Elke Teich) vor und sorgen für die empirische Belegung theoretischer Grundsätze (Ioana Bălăcescu / Bernd Stefanink). Der fokussierte Blick auf die Literatur (Rainer Kohlmayer, Jean Boase-Beier, Wolfgang Pöckl, Irene Weber Henking, Angela Sanmann, Ursula Wienen) und die Bibel (Christoph Kugelmeier) als die Orte par excellence , in denen sich das unerschöpfliche Potential der translatorischen Kreativität am deutlichsten zeigt, sucht ebenfalls den weiteren Horizont einer disziplinären (Jörn Albrecht), gesellschaftlichen (Erich Steiner) und beruflichen (Hanna Risku / Jelena Milošević / Regina Rogl) Einbettung. In dieser multiperspektivischen Schau, die im Nexus Kreativität-Verstehen-Interpretation ihre gemeinsame Grundlage hat, wird der Facettenreichtum des Phänomens der Kreativität in der Translation offenkundig.
Der Band ist Prof. Dr. Alberto Gil, Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Übersetzungswissenschaft sowie Gründer und Leiter des Forschungszentrums Hermeneutik und Kreativität an der Universität des Saarlandes, zum Anlass seines 65. Geburtstags zugeeignet.
Innerhalb der Themenbereiche Sprache-Rhetorik-Translation, die die wichtigsten Wirkungsfelder von Prof. Gil in Forschung und Lehre bilden (vgl. Atayan/Wienen 2012), hat sich in den letzten Jahren die Übersetzungshermeneutik deutlich als Schwerpunkt seiner Forschungen (Gil 2007, 2009, 2012, 2014, 2015, im Druck) profiliert. Die genannten Arbeitsfelder definieren die Markenzeichen seines übersetzungshermeneutischen Programms: solide sprachwissenschaftliche Untermauerung hermeneutischer Verstehens- und Interpretationsprozesse, feines Sensorium für rhetorisch-stilistische Individualität im Original und Translat – beides vereint in einer grundlegend anthropologischen Perspektive, die das Humanum in der Translation würdigt.
Dem Phänomen der übersetzerischen Kreativität bringt Alberto Gil in seinen Studien zur Translation eine besondere Aufmerksamkeit entgegen. Aus seinen Reflexionen und den mit Feingespür durchgeführten translatologischen Analysen greifen wir einen Gedanken heraus, der das anskizzierte Bild der unterschiedlichen Zugänge zu dem hier zur Diskussion stehenden Phänomen um einen weiteren Aspekt bereichert: Kreativität als zentrale Größe in der Definierung des Verhältnisses von Original und Übersetzung. Die Beschäftigung mit dem Problem der Kreativität schärft zunächst einmal den Blick auf das Translat: Ein Übersetzer, der das Wagnis des Kreativseins eingeht, schafft in der Zielsprache ein gleichwertiges Werk, dem u. U. eine „Eigenidentität” (Gil 2015: 146) zugesprochen werden kann. Zugleich schärft die Kreativität der Übersetzung den Blick auf das Original, denn im kreativen Akt des Übersetzens können „tiefere Schichten des Originals freigelegt werden, die sonst nur im Bereich der Ausdruckspotentialität geblieben wären” (Gil 2015: 152). Die Bidirektionalität dieses Verhältnisses wertet beide Texte auf und zeichnet zugleich ein ausdifferenziertes Bild von der Translation ab.
Der Titel des Bandes, der zu einer chiastischen Betrachtung des Verhältnisses von Hermeneutik und Kreativität im Übersetzen einlädt, greift diesen Gedanken des Jubilars auf und gibt ihn an die wissenschaftliche Community zur Reflexion weiter.
Atayan, Vahram / Wienen, Ursula (Hrsg.) (2012): Sprache – Rhetorik – Translation. Festschrift für Alberto Gil zu seinem 60. Geburtstag . Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Gil, Alberto (2007): „Hermeneutik und Übersetzungskritik. Zu Jorge Luis Borges’ Pierre Menard, autor del ‚Quijote’ ”. In: Gil, Alberto / Wienen, Ursula (Hrsg.): Multiperspektivische Fragestellungen der Translation in der Romania . Frankfurt a. M.: Peter Lang, 313–330.
Gil, Alberto (2009): „Hermeneutik der Angemessenheit. Translatorische Dimensionen des Rhetorikbegriffs decorum ”. In: Cercel, Larisa (Hrsg.): Übersetzung und Hermeneutik – Traduction et herméneutique . Bukarest: Zetabooks, 317–330.
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