In diesem Kontext sind auch Loths Kommentare über Literatur zu sehen.14 Zwar stellt HauptmannHauptmann, Gerhart klar, dass Loths Kunstansichten nicht seine eigenen sind;15 doch ebendiese Ansichten tragen jenen idealistischen Zug, der die programmatischen Äußerungen der Naturalisten prägt. Auch hier zeigt sich, dass die DeterminationDetermination doch überwindbar ist. Das Buch, das Loth Helene empfiehlt, hat einen „vernünftigenVernunft Zweck“, da es „die Menschen nicht [malt], wie sie sind, sondern wie sie einmal werden sollen. Es wirkt vorbildlich“ (CA 1, 46). Literatur kann demnach den Menschen positiv beeinflussen, ihn positiv determinieren. Die Texte Zolas und Ibsens hingegen seien keine Literatur; ihnen fehle der „klare[], erfrischende[] Trunk“, das positive Gegenbild zur bloßen Schilderung von Elend und Missständen. Zola und Ibsen böten lediglich „Medizin“ (CA 1, 46). Diese Metapher ist als Vorwurf intendiert, obwohl sie eigentlich zum Bild des Menschen, den es gesund zu machen gilt, passt. Loth fordert hingegen die Aufgabe der Fokussierung auf das Negativ-Pathologische zugunsten des Aufzeigens von Verbesserungs- und Überwindungsmöglichkeiten. Außerfiktional betrachtet, verkörpert die Figur Loth diese Position. Als Kämpfer für das allgemeine Glück strebt er die Behebung von den Menschen determinierenden Missständen an, gleichzeitig relativiert er den strengen DeterminismusDeterminismus, indem er als Beispiel für die Möglichkeit freier Entscheidungsgewalt, determinierenden Faktoren zum Trotze, fungiert.
HauptmannHauptmann, Gerhart modifiziert somit das naturalistische Menschenbild, wie es bei HolzHolz, Arno16 theoretisch formuliert und in Papa Hamlet literarisch verarbeitet wird, auf signifikante Weise. Zwar spielt das naturalistische Dogma der DeterminationDetermination des Menschen und der gesetzmäßigen Erklärbarkeit seines Verhaltens eine entscheidende Rolle; der Glaube an die Möglichkeit autonomenAutonomie Handelns wird jedoch nicht vollständig aufgegeben, sondern in den Dienst der Forderung nach Menschlichkeit gestellt.
Vor Sonnenaufgang schildert die Menschenwürde als bedroht: durch soziale Veränderungen, durch zeittypische Erscheinungen, durch familiäre Missstände. Das Drama schärft das Bewusstsein für die determinierende, entwürdigendeEntwürdigung Macht dieser Faktoren; der Blick fällt auf die Bedingungen autonomenAutonomie, verantwortungsvollenVerantwortung Handelns. Helenes SuizidSuizid erscheint dabei nicht als Möglichkeit der Überwindung von DeterminationDetermination, sondern gerade als deren unabwendbare Folge. Er ist kein autonomer Akt, mit dem das IndividuumIndividuum seine FreiheitFreiheit rettet und seine Würde beweist. Vielmehr verweist auch der Selbstmord auf die kritische Frage nach den ihn determinierenden Faktoren.17
V.2.3. HolzHolz, Arno / SchlafSchlaf, Johannes: Die Familie Selicke (1890)
V.2.3.1. Vor Sonnenaufgang und Die Familie Selicke I
Sein künstlerisches Verhältnis zu den ‚konsequenten Naturalisten‘ HolzHolz, Arno und SchlafSchlaf, Johannes beschreibt HauptmannHauptmann, Gerhart rückblickend wie folgt:
Ich habe von dem Bjarne-P.-Holmsen-Prinzip selbst in meinem ersten Stück nur sehr bedingten Gebrauch gemacht. Und wenn es auch Arno HolzHolz, Arno in seinem anfänglichen Enthusiasmus das überhaupt beste deutsche Drama nannte, so kam er doch später davon ab, als das Johannes SchlafscheSchlaf, Johannes Drama „Familie Selicke“ in Erscheinung trat und damit das Prinzip in angeblich reiner Form. Nun stand er nicht an, mein Werk zu entwerten, weil es eben, wie ohne Zweifel ganz richtig war, sein an sich originales Prinzip keineswegs durchführte. (CA 11, 496)1
HauptmannHauptmann, Gerhart sah den Einfluss von HolzHolz, Arno v.a. in der Art der ästhetischen Reproduktion von Sprache.2 Wenn er hier einen signifikanten Unterschied zwischen beiden Texten feststellt, dann bezieht er sich auch auf die gewichtigen Unterschiede in den theoretischen Voraussetzungen des jeweiligen Menschenbildes, die sich in der Figurenzeichnung manifestieren. Die Familie Selicke ist, so Peter Sprengel, „Antwort auf und ‚konsequent-naturalistische‘ Alternative zu Vor Sonnenaufgang “.3 Die entscheidenden Unterschiede – und somit die Antwort Holzʼ und SchlafsSchlaf, Johannes auf Hauptmanns Figuren – fördert eine auf den Menschenwürdebegriff zugespitzte Interpretation zu Tage.
V.2.3.2. Die Überwindung der WürdelosigkeitWürdelosigkeit?
Wie Thienwiebel in Papa Hamlet ist auch die Familie Selicke darauf bedacht, nach außen hin die Insignien einer kleinbürgerlichen Würde zur Schau zu stellen: Die erste Regieanweisung des Textes erwähnt Gipsstatuen von GoetheGoethe, Johann Wolfgang und SchillerSchiller, Friedrich, einen Werther -Stich sowie Bilder Bismarcks und des „alte[n] Kaiser[s]“ (FS 5).1 Diese Requisiten haben eine doppelte Kontrastfunktion: Sie verweisen sowohl auf die Diskrepanz zwischen dem idealisierten, kleinbürgerlichen Lebensstil und den realen, ärmlichen Lebensbedingungen2 als auch auf das mit ihnen assoziierte klassische Menschenbild, das aus naturalistischer Perspektive negiert wird. Ausgerechnet der Theologe Gustav Wendt erweist sich im Dialog mit Toni zunächst als von der DeterminismuslehreDeterminismus überzeugter Naturalist. Leidenschaftlich versucht der angehende Pfarrer, Toni dazu zu bewegen, mit ihm aufs Land zu ziehen und dem „Elend“ (FS 26) zu entfliehen. „Du bist ja auch nur ein Mensch!“ (FS 26), ruft Wendt aus, als wolle er sie auffordern, sich ihren Affekten, die sie sowieso nicht beeinflussen kann, bewusst hinzugeben. Dann zeichnet er ein äußerst negatives Bild von Tonis Eltern, die eine von Hass und Streit geprägte Ehe führen: „Das sind keine vernünftigenVernunft Menschen mehr, das sind … Ae! Sie sind einfach jämmerlich in ihrem nichtswürdigen, kindischen Haß!“ (FS 27). Noch schreckt Wendt zwar davor zurück, die Selickes als TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung zu bezeichnen. Die offenbare WürdelosigkeitWürdelosigkeit der Eltern bedroht jedoch in seinen Augen auch die Existenz der Kinder: „Die Kinder müssen ja zugrunde gehen!“ (FS 27). Die Interdependenz von Milieu und Charakter steht für Wendt außer Frage.3 Toni versorgt zu wissen und von ihr finanziell unterstützt zu werden, hätte laut Wendt einen positiven Effekt auf die gesamte Familie: „Und wenn erst ihre äußere Lage etwas besser ist, dann ist ja auch vieles, vieles gleich ganz anders!“ (FS 28). Der durch das Elend der Großstadt determinierteDetermination Mensch ist für ihn jedenfalls vollkommen würdelos:
Die Menschen sind nicht mehr das, wofür ich sie hielt! Sie sind selbstsüchtig! Brutal selbstsüchtig! Sie sind nichts weiter als TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, raffinierte Bestien, wandelnde Triebe, die gegeneinander kämpfen, sich blindlings zur Geltung bringen bis zur gegenseitigen Vernichtung! Alle die schönen Ideen, die sie sich zurechtgeträumt haben, von GottGott, Liebe, und … eh! das ist ja alles Blödsinn! Blödsinn! Man … tappt ja nur so hin. Man ist die reine MaschineMaschine! (FS 29)4
Wendt artikuliert ein Menschenbild, das zwei nur auf den ersten Blick unvereinbare Begriffe enthält: „Bestien“ und „MaschineMaschine“. Mit Bezug auf die Lehren der Natur- und Sozialwissenschaften sieht Wendt den Menschen als brutales TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung unter Tieren, das in einen ständigen, egoistischen ‚Kampf ums Dasein‘ verstrickt ist. Zudem sind diese Menschtiere ihren Trieben ausgeliefert, also vollkommen determiniertDetermination. Die Maschinenmetapher ist mehrdeutig, da der genaue Bezug unklar ist: Der Mensch ist eine Maschine, insofern seine Handlungen von seinen Affekten und seinem evolutionären Überlebenswillen vorgegeben, gleichsam gesteuert werden und ihm, wie der Maschine, jede AutonomieAutonomie- und Moralfähigkeit fehlt. Doch das Indefinitpronomen „Man“ könnte sich auch auf Wendt selbst beziehen, der über den Mangel an Handlungsalternativen klagt – und so proleptisch sein eigenes, vorgezeichnetes Verlassen Tonis vorwegnimmt. Dass gerade ein Theologe zum Vertreter eines solchen Menschenbilds wird, entlarvt nicht nur „religiöse Tröstungsangebote als falsche Versprechungen“,5 sondern delegitimiert auch die theologische Begründung der Würde des Menschen als von GottGott geschaffenes, der SchöpfungSchöpfung übergeordnetes und mit einem freien Willen ausgestattetes Wesen. Die „schönen Ideen“ von der besonderen Würde des Menschen kommen Wendt lächerlich vor; der Mensch wird vielmehr zur entmystifizierten, in seiner Determination genau untersuch- und erklärbaren „Maschine“. Dass Wendt trotz gegenteiliger Äußerungen an die Liebe glaubt und Toni für sich gewinnen will, ist zunächst widersprüchlich. Er glaubt, nicht ohne Eskapismus, auf dem Land, „in ruhigen, schönen Verhältnissen“, abseits der determinierenden Macht des Milieus, ein anderes Leben führen zu können: „Wir werden ganz andre Menschen sein! […] Wir verstehen das Leben! Wir wissen, wie miserabel es ist, aber wir haben dann auch, was mit ihm versöhnt!“ (FS 31). Die Einsicht in die conditio humana ist für Wendt Voraussetzung einer glücklichen Existenz, in der immerhin eine Versöhnung mit der WürdelosigkeitWürdelosigkeit des Menschen, ja eine persönliche Besserung möglich scheint. Problematisch ist jedoch, dass er dies nur abseits der Großstadtrealität für möglich hält und dass seine Lösung einen eindeutig egoistischen Zug trägt – stellt er doch seinen eigenen Wunsch nach privater und beruflicher Sicherheit niemals in Frage.
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