Die Geschichten, die die Sklaven selbst aus ihrem Alltag oder ihrer Vergangenheit erzählen, haben denselben Effekt. Sie berichten von Misshandlungen, von gescheiterten Fluchtversuchen, von Verstümmelungen, von Menschenjagd, vom Status der Sklaven, die den Herren weniger als Hunde gelten oder wie Pferde vor den Wagen gespannt werden (vgl. NS 46–52 und 67–68). Alle diese Passagen mit ihren grausigen Details haben eine Kontrastfunktion: Sie dienen als negative Folie für die diskursive wie literarische Konstitution der Menschenwürde. Die explizit verbalisierte und rekapitulierte Missachtung lässt die Behauptung der Menschenwürde umso virulenter erscheinen. Es besteht eine Interdependenz zwischen der Einsicht in die Würde der Sklaven und der Empörung über die geschilderten WürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung; deren Darstellung wird durch die Wirkintention gerechtfertigt, eben die Feststellung, dass die Behandlung der Sklaven menschenunwürdig und daher moralisch zu verurteilen ist.
Phänomenologisch betrachtet schildert KotzebuesKotzebue, August von Drama unterschiedliche Formen körperlicher GewaltGewalt.2 Die Entführungen zum Zweck der Ausbeutung durch Zwangsarbeit in Kolonien, von denen etwa Ayos und Zameo erzählen, sind eine Form lozierender Gewalt ; der KörperKörper wird zur „verschiebbaren Masse“. Raptive Gewalt – das Benutzen des Körpers mit dem Ziel des sexuellenSexualität, Sex Lustgewinns – droht der Figur Ada von Seiten Johns. Was John und der Meisterknecht den Sklaven antun, ist autotelische Gewalt : Das Beschädigen oder Zerstören der körperlichen Integrität dient nicht wirklich einem bestimmten Ziel – die Gewalt selbst wird zum Zweck.3 Gemeinsam ist allen drei Formen der Gewalt, dass sie die Sklaven depersonalisieren und auf ihren als ‚DingObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, DinghaftigkeitDing, Verdinglichung, Dinghaftigkeit (s. Objekt, Objektifizierung)‘ wahrgenommenen Körper reduzieren.
Die Figur William verkörpert indes, wie bereits erwähnt, innerfiktional die vom Publikum erwartete Reaktion. In einer Regieanweisung heißt es: „([…] Sein Gesicht gluͤht von Unwillen)“ (NS 26). Der Zuschauer soll wie William mit Betroffenheit registrieren, dass die Sklaven nicht nur entwürdigtEntwürdigung werden, sondern – und hier kommt nun eine entscheidende Dimension hinzu – quasi rechtelos sind. Als das Drama 1794 uraufgeführt wurde, war die Frage nach den MenschenrechtenMenschenrechte, ihrer Kodifizierung und Gültigkeit äußerst aktuell und politisch brisant.4 Im Text wird sie nicht nur implizit verhandelt, sondern ausdrücklich angesprochen. Auf Williams naive Frage, ob die Sklaven nicht einen Gerichtshof anrufen könnten, erwidert Truro:
Ein Gerichtshof? – Nicht einmal als Zeugen duͤrfen wir auftreten, vielweniger als Klaͤger. Ein Neger hat nie Recht. Jeder Europaͤer, selbst der Fremdling, darf ihn ungestraft peitschen, und hebt der Neger die Hand gegen ihn auf, so ist er des Todes. (NS 50)
Für die Sklaven gelten die Bürger- und MenschenrechteMenschenrechte nicht; weder vor Recht und Gesetz noch von den Kolonialherren werden sie als gleichwertige Rechtssubjekte anerkannt. De facto stehen sie außerhalb des Gesetzes. Deshalb reagiert John spöttisch auf Ayos’ Versuch, sich gegen Willkür und Ungerechtigkeit zu wehren:
Ayos. […] ich verklage dich.
John. (laͤchelnd) Wo?
Ayos. Vor GottGott! (NS 87)
John geht hierauf nicht einmal ein; für eine solche Argumentation ist er, der in den Sklaven eine von GottGott wesenhaft anders erschaffene Rasse sieht, nicht empfänglich. Wenn dieser Ausspruch demnach keine primär innerfiktionale Funktion hat, bleibt als Adressat nur der außerfiktionale Rezipient. Bereits im Dialog mit John (I,6) hatte William eine Aufforderung formuliert, die man durchaus als Durchbrechen der innerfiktionalen Kommunikationssituation deuten könnte: „Redet laut, ihr Diener der Kirche! widersprecht laut!“ (NS 37). Da das positive Recht ebenso wie die koloniale Praxis die Gleichheit aller Menschen ignoriert, ist Gott die letzte Instanz. Doch selbst diese ultimative Garantie – die Gleichheit aller Menschen vor Gott – lässt nicht auf eine Veränderung im Diesseits hoffen. Die Zeit, in der „die Natur wieder in ihre Rechte tritt“,5 wie es Ada formuliert, in der mit Lillis Worten „die Farbe kein Verbrechen mehr ist“, in der also die natürliche Gleichheit aller Menschen uneingeschränkt respektiert wird, bleibt innerfiktional eine erst für das Jenseits zu erhoffende Utopie (NS 52). Außerfiktional kann jedoch die Empörung des Rezipienten – über die brutalen EntwürdigungenEntwürdigung und das christlichen Grundsätzen widersprechende Menschenbild – zu einem Movens für Veränderung werden. Indem das Stück hier ex negativo die Forderung nach der universellen Gültigkeit elementarer Rechte wie dem Recht auf leibseelische Integrität oder der Anerkennung der Sklaven als Rechtssubjekte entwickelt, entfaltet es am deutlichsten sein sozialkritisches Potential.
III.5. Kindsmord und Freitod als dramatische Prüfsteine der Menschenwürde
Schockierendes wird auch direkt auf offener Bühne dargestellt. Szenen wie die Misshandlung Zameos (NS 81–82) delegitimieren das Verhalten der Kolonialherren; diese werden als unmenschlich gebrandmarkt, weil sie die Sklaven, die als würdige Menschen EmpathieEmpathie und MitleidMitleid verdienen, entwürdigenEntwürdigung. Die im Folgenden analysierten Szenen jedoch gestalten Mord und SuizidSuizid als einzig mögliche Formen des autonomenAutonomie Widerstandes gegen das entwürdigende System der Sklaverei.
Der Tod als aktiv und selbstbestimmt zu suchende Möglichkeit des Entkommens begleitet die Handlung.1 Am deutlichsten formuliert Ayos das Recht des Einzelnen, den Tod zu wählen: „Alle Wohlthaten des Himmels darf ein Tyrann uns vorenthalten, nur nicht den Tod! Verbittern kann er ihn, aber nicht hemmen!“ (NS 77). Diese Position wird innerfiktional nicht in Frage gestellt; der Freitod als einzig mögliche selbstbestimmte Handlung wird zum Beweis der eigenen Würde, gleichzeitig auch zum Mittel, die eigene Würde zu wahren. Die Kritik trifft also nicht jene, die den Tod wählen, sondern jene, die für die Umstände, die zu dieser Entscheidung führen, verantwortlich sind: die weißen Sklavenhalter.
Dies illustriert etwa die Sympathielenkung in Szene II,2, in der eine Sklavin ihren drei Tage alten Säugling, den sie mit eigenen Händen ermordet hat, auf die Bühne bringt. „[L]aͤchelnd“ erzählt sie ihre abstoßende Geschichte: Kurz nach der Entbindung wurde sie vom Meisterknecht ausgepeitscht, stillte infolgedessen das Kind zwei Tage lang mit Blut; um ihm die bevorstehenden Qualen der Sklavenexistenz zu ersparen, drückt sie ihm einen Nagel ins Herz. Den Kindsmord begreift sie als Beweis ihrer Mutterliebe, als ihre „Pflicht“. Sie selbst wünscht sich, ihre Mutter hätte Ähnliches mit ihr getan. Doch sie wurde als Kind entführt, „fuͤr einen kupfernen Kessel“ verkauft, zur Arbeit gezwungen, schließlich zu einer Gebärmaschine degradiert, „um noch mehr Sklaven in die Welt zu setzen“. Auch als Hochschwangere musste sie arbeiten;2 angesichts dieser EntwürdigungenEntwürdigung scheint ihr der Kindsmord die einzig mögliche würdige Handlung, ein Akt der Liebe und Fürsorge zu sein. Das Intentum dieser Szene wird in Regieanweisungen für andere Charaktere explizit gemacht: William ist zunächst „aufspringend“, dann „schaudernd“, später „zerknirscht“, schließlich „verhuͤllt [er] sein Gesicht, und wirft sich auf die Bank in der Laube“; Truro wischt „sich eine Thraͤne aus den Augen“ (NS 57–61). Das Schreckliche, Ungeheuerliche der Tat soll den Zuschauer schockieren und rühren. Die Mutter wird nicht verurteilt, sondern mitleidigMitleid betrachtet; die eigentliche Schuld trifft das System der Sklaverei und der Ausbeutung.3
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