Identitäten – Dialoge im Deutschunterricht
Schreiben – Lesen – Lernen – Lehren
Jörg Roche / Gesine Schiewer
unter konzeptueller Assistenz und mit Originalbeiträgen von José F. A. Oliver, Zehra Çirak, Akos Doma und Michael Stavariˇc
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0032-8
I. VORW:ORTE
Zur Bedeutung des Dialogs
Didaktik des Dialogs: Einführung
Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer
1. Was ist unter ‚Dialog’ zu verstehen? Begriff, Theorien, Konzepte
Diesem Begriff haftet in der alltäglichen Wahrnehmung häufig etwas Abgehobenes an. Denn wer führt schon einen ‚Dialog’ innerhalb der Familie, mit Freunden, Nachbarn, Verkaufspersonal, Behörden oder im Berufsleben? Eher sind in alltäglichen und beruflichen Kommunikationssituationen das ‚Gespräch’, die ‚Besprechung’, das ‚Meeting’, die ‚Diskussion’, der ‚Small Talk’, allenfalls die inzwischen etwas altmodisch anmutende ‚Konversation’ als typische Textsorten anzutreffen.
In politischen Kontexten, in Forschung und Wissenschaft ist ‚Dialog’ ein Begriff, der mit einer Reihe von
unterschiedlichen, unter Umständen konträren theoretischen Positionen (zum Beispiel als politisches Instrument der Konfliktlösung oder als Mittel in der Wissensvermittlung)
variablen Auffassungen von universellen Aspekten und von kultureller Vielfalt („Dialog der Kulturen“)
differierenden praktischen Anwendungsfeldern der Verständigung und Mediation
verbunden sein kann.
Über Jahrhunderte war es die Philosophie, in der der ‚Dialog’ seine grundlegende wissenschaftliche Verortung fand. Dabei verdeutlicht schon ein kursorischer Blick auf die Begriffsgeschichte die Breite seines Spektrums unterschiedlicher Auffassungen.
So ist in der Antike und im Mittelalter ‚Dialog’ in erster Linie eine wichtige Form des mündlichen und schriftlichen Erkenntnisgewinns, das heißt eine dialogisch ausgestaltete Textgattung, in der Erkenntnis im Austausch erzielt wurde. Sie erlaubte es, unterschiedliche Positionen gegeneinander abzuwägen. Der sokratisch-philosophische Dialog etwa kann als „praktizierte Form der Wahrheitssuche und Wissensbildung“ beschrieben werden (Schlaeger 1996: 421ff.).
Ganz anders wird demgegenüber im 17. Jahrhundert mit René Descartes’ prinzipieller Unterscheidung zwischen der ‚denkenden’ und der ‚ausgedehnten’ Substanz (oder auch zwischen ‚Geist’ und ‚Körper’) und mit seiner Auffassung des ‚cogito ergo sum’ (‚ich denke, also bin ich’) das Denken im für sich raisonnierenden Subjekt begründet. Damit wird der andere Mensch „als Redepartner allenfalls in rhetorischer, für die Wahrheitssuche subsidiären Form“ benötigt (Schlaeger 1996: 421ff.). Ja, sogar die Erkenntnis eines anderen Menschen überhaupt – im äußerlich wahrnehmbaren Körper – als „ein anderes denkendes Ich“ wird auf einen Analogieschluss gegründet, also der Annahme des Bestehens von Ähnlichkeiten von eigenem und fremdem Ich (vgl. Heinrichs 1972: 226). Nur aufgrund der hypothetischen Unterstellung, der Andere denke wie man selbst, kann man ihn Descartes zufolge überhaupt erkennen und sich mit ihm verständigen. Der Dialog tritt hier in seiner Bedeutung also in den Hintergrund beziehungsweise wird als „ein stiller Dialog der Seele mit sich selbst“ verstanden. Dies ist eine Auffassung, die aber auch schon in der Antike bei Platon anzutreffen war (vgl. Meyer 2006: 8).
Für die Dialogphilosophie des 20. Jahrhunderts geht es in Anlehnung an Martin Buber um
„ein Gespräch, das durch wechselseitige Mitteilung zu einem interpersonalen ‚Zwischen’, das heißt zu einem den Partnern gemeinsamen Sinnbestand führt“ (Heinrichs 1972: 226). Hier wird von einer Form gesprochen, „die das Miteinander der Wahrheitssuche vor die Vernunft des Einzel-Ichs stellt, für die Wissensbildung ein unabschließbarer kommunikativer Vollzug und nicht die Entfaltung eines Denksystems nach ehernen logischen Gesetzen“ ist. (Schlaeger 1996: 421ff.)
In der Tradition von Bubers Grundausrichtung der Dialogphilosophie steht im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts die dialogische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers mit der besonderen Berücksichtigung von Prozessen des Verstehens und angemessenen Deutens. Später nimmt sich, vor allem in Bezug auf die Interkulturelle Kommunikation, die Interkulturelle Literaturwissenschaft und die Interkulturelle Sprachdidaktik, auch die Interkulturelle Hermeneutik, dieser Problematik an, indem sie das „Fremdverstehen“ als einen dialektischen Prozess zwischen Kulturen zu fassen versucht, statt ihn als historischen Prozess wie in der Hermeneutik zu betrachten. Es geht dabei, wie Charles Taylor (1992) es im Anschluss an Gadamer nennt, um eine Horizontverschmelzung („fusion of horizons“) aus eigenen und fremden Horizontkomponenten. In diesem Prozess bilden sich modifizierte Positionen der Wahrnehmung des Eigenen durch das Fremde und der Wahrnehmung des Fremden durch das Eigene. Die daraus entstehenden Positionen sind gesellschaftlichen Normen, individuellen Dispositionen und der Interaktion aus beiden geschuldet. Begriffe wie „Perspektivenwechsel“, „das Eigene und das Fremde“, „interkulturell“ oder auch „der dritte Raum“ (Bhabha 1994) sind diesem Ansatz verpflichtet.
In den letzten Jahrzehnten wurden insbesondere zwei Positionen prominent: eine „opti-mistische“ mit der Diskursethik von Jürgen Habermas und der dialogischen Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer, und eine entgegengesetzte von Samuel P. Huntington mit der Auffassung eines zu erwartenden „Kampfes der Kulturen“.
Die Diskursethik hat die Orientierung auf den so genannten „Dialog der Kulturen“ maßgeblich beeinflusst. Auf Initiative des damaligen iranischen Präsidenten Mohammad Chatami wurde für das Jahr 2001 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen das „Jahr des Dialogs der Kulturen“ beschlossen. Unter anderem erschien daraufhin im Oktober 2001 der vom Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan initiierte Band: Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations . In deutscher Übersetzung wurde er unter dem Titel Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen noch im selben Jahr publiziert. Vorgestellt wird in dem prominent präsentierten Band ein Rahmenkonzept, das für die Praxis des interkulturellen Dialogs auf sämtlichen politischen, institutionellen und gesellschaftlichen Ebenen geeignet sein soll (vgl. Schiewer 2010).
Auch vom Auswärtigen Amt in Deutschland wurde der Ansatz aufgegriffen. Dabei wird davon ausgegangen, dass z.B. Probleme des Schutzes der natürlichen Umwelt und ihrer Erhaltung für zukünftige Generationen nicht mehr allein auf nationaler Ebene gelöst werden können. Daher werden die zwischenstaatliche Zusammenarbeit und gemeinsame internationale Bemühungen als unabdingbar erachtet. Es geht somit um Dialog zwischen Regierungen und Zivilgesellschaften, das heißt zwischen staatlichen Akteuren und nichtstaatlichen Organisationen, Stiftungen, Kirchen, Wirtschaftsverbänden und Unternehmen.
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