Wasser ist ein Beispiel, wie Moleküle eine Geschichte durchlaufen, die je nach Distanz zum Protostern verschieden ist. Würden wir diese Geschichte verstehen und könnten wir Wasser und andere Moleküle genügend gut beobachten, wäre es möglich, den physikalischen Zustand von Akkretionsscheiben zu entschlüsseln und seine Geschichte zu rekonstruieren. Die Moleküle und das Verhältnis ihrer Häufigkeiten sind wie Uhren, die uns die Entwicklung anzeigen. Sie würden uns helfen, auch die Geschichte unseres eigenen Sonnensystems zu verstehen. Bis dieser Traum sich verwirklicht, fehlt noch viel. In diesem Jahrhundert sind diesbezüglich große Fortschritte zu erwarten. Vielleicht können wir in hundert Jahren aus Molekülbeobachtungen den Entwicklungsstand von Protosternen und Planeten in benachbarten Molekülwolken ablesen. Die molekulare Entwicklungsgeschichte kann vielleicht auch die Frage beantworten, wie häufig unser Typ von Planetensystem ist. Es sind sogar derart viele verschiedene chemische und physikalische Entwicklungswege von Sternen und Planeten denkbar, dass unser Sonnensystem ein Einzelfall sein könnte. Die Astronomie des 21. Jahrhunderts verspricht so spannend zu werden wie in früheren Jahrhunderten.
Abbildung 6: Der Stern GQ Lupi (mit A markiert im Bild) ist erst eine Million Jahre alt. Er wird von einem zweiten, leuchtschwachen und gleich alten Himmelskörper (b) begleitet, der in Masse nur wenig größer als Jupiter ist. Das Objekt b ist somit wahrscheinlich der erste Planet, der direkt abgebildet werden konnte. Er hat die hundertfache Erde-Sonne-Distanz von seinem Zentralgestirn. Das Bild zeigt seine Wärmestrahlung im infraroten Licht. Der Planet strahlt kräftig, da er noch über 1500 Grad heiß ist und sich seit seiner Entstehung noch nicht vollständig abgekühlt hat (Foto: R. Neuhäuser, Europäische Südsternwarte, ESO).
Der Druck in der Korona des jungen Sternes übersteigt die Schwerkraft. Daher fließt die Korona als starker Sternwind in den Weltraum ab, wird aber durch die magnetische Heizung der unteren Schichten dauernd neu erzeugt. Der Sternwind und die Hochenergie-Strahlungen des Jungsternes tragen, wie bereits erwähnt, die Akkretionsscheibe ab. Winde und Strahlungen reichen aber weiter in den Raum hinaus und pusten auch sämtliche Überreste des ursprünglichen Wolkenkerns weg. Auf diese Weise verhindert der Stern ein weiteres Anwachsen. Dies scheint der Grund zu sein, dass der massereichste Stern im heutigen Universum nur etwa dreihundert Sonnenmassen hat. Ohne diese Selbstregulierung wäre es nicht auszuschließen, dass seine Masse weiter wächst und schließlich, ohne einen Stern zu bilden, die Schwelle zu einem Schwarzen Loch überschreitet. Es ist erstaunlich, wie selten solche kosmischen Missgeschicke sind, vermutlich ereigneten sie sich nur im frühen Universum. Die Schwarzen Löcher im Zentrum von Galaxien sind, wie wir später sehen werden, vermutlich Relikte einer früheren Zeit, als die Selbstregulierung der Akkretion noch nicht auf gleiche Weise funktionierte.
Objekte mit weniger als einem Zehntel der Sonnenmasse haben einen zu kleinen Druck, um Wasserstoff zu verschmelzen, und werden nicht zu Sternen. Vom kleinsten zum größten Stern liegt ein Massenunterschied von nur einem Faktor Tausend. Das ist nicht viel in Anbetracht einer Sonnenmasse von zwei Quadrilliarden (2∙1027) Tonnen. Da wären ein paar Zehnerpotenzen mehr oder weniger gut denkbar. Erstaunlich, wie sich die Sternentstehung so reguliert, dass die Sternmasse jene Größe erreicht, bei der Wasserstoff in der richtigen Rate verschmilzt, sodass sich eine stabile Wärmequelle bildet und Leben entstehen kann!
Wenn beim Zähneputzen das Wasser aus dem Hahn fließt, versuche ich manchmal aufzuzählen, auf welchen verschlungenen Wegen es zu mir gelangte. Ich bin noch nie in der vom Zahnarzt verordneten Zeit damit zu Ende gekommen. Aus den obigen skizzenhaften Ausführungen geht hervor, dass bei der Entstehung von Sternen und Planeten eine große Zahl von Vorgängen stattfindet und viele Details noch unbekannt sind. Es gibt auch noch eine Fülle offener Fragen, offensichtlich weit mehr als Kant und Laplace vor 200 Jahren hatten. Jede Antwort weckte mehrere neue Fragen. Der Entstehungsprozess umfasst überwältigend viele Vorgänge, die ablaufen müssen, damit sich ein Stern, umringt von einem Planetensystem, bilden kann. Die Erforschung der Stern- und Planetenentstehung scheint unergründlich zu sein.
Man darf mit Recht fragen, ob denn die naturwissenschaftliche Methode zum vollständigen Erklären führe. Offensichtlich wird die Komplexität der Wirklichkeit immer wieder unterschätzt. Der Grund liegt wohl darin, dass in den kontrollierten Laborexperimenten der Physik die Wirklichkeit von der Umwelt isoliert wird. Damit reduziert man die Zahl der interaktiven Mitspieler, und präpariert die Wirklichkeit auf ein handhabbares Maß an Möglichkeiten. Das Beispiel der Sternentstehung zeigt hingegen, welche Fülle von Komplexität sich durch eine Vielzahl wechselwirkender Prozesse bilden kann. Auch wenn wir eines Tages alle Grundgleichungen kennen sollten, würden wir noch lange nicht die gesamte Wirklichkeit verstehen. Es gibt Phänomene, die erst in der Menge auftauchen. Jede Lehrperson am Gymnasium weiß, wie einfach es ist, mit einzelnen Schülern gute Gespräche zu führen, aber wie leicht man die Kontrolle über die Gruppendynamik einer Klasse verlieren kann.
Die gegenwärtige Front der Forschung ist eine Grenze in dauernder Bewegung. Sie dringt immer tiefer ins Verständnis der kosmischen Ursprünge und Vorgänge vor. Wegen der Komplexität des Universums wird diese Grenze nie verschwinden. Es soll nicht der Eindruck entstehen, es gäbe keine Fortschritte im Wissen, wie Sterne und Planeten entstehen. Im Gegenteil! Es gibt heute weltweit mehrere tausend Forschende, die nur an diesen Themen arbeiten. Den Fachleuten wird jeden Monat der »Star Formation Newsletter« zugeschickt mit Zusammenfassungen und Links zu den neusten Artikeln, die von den Zeitschriften zur Veröffentlichung angenommen wurden. Es sind rund 60 Abhandlungen jeden Monat. Sie lesen sich wie ein spannender Roman, aber meine Zeit reicht oft nur, ihre Überschriften zu lesen und die Zusammenfassungen der interessantesten Beiträge zu überfliegen.
Das Beispiel der Stern- und Planetenentstehung erinnert mich an das Problem bei der Bestimmung der Küstenlänge einer Insel. Misst man sie mit einem Faden auf einer Landkarte, scheint dies kein Problem zu sein. Will man es aber genauer wissen und geht im Freien mit einem Messband an die Arbeit, erhält man eine größere Strecke, weil auch kleinere Einbuchtungen erfasst werden. Die Frage nach der Küstenlänge lässt sich nicht abschließend beantworten, denn es könnte jemand gar mit einer Lupe messen und erhielte wieder ein größeres Resultat. Mikroskope lieferten noch größere Werte. Die Frage lässt sich nur befriedigend beantworten, wenn wir die Skalenlänge angeben, die uns wichtig ist. Wenn wir zum Beispiel die Küste abschreiten wollen, wäre es die Meterskala. Auf die Sternentstehung angewandt, werden wir nie alles verstehen, aber wir müssen es auch nicht. Eines Tages kennt die Forschung vielleicht die Entstehung der Sterne auf einer Detailskala, die befriedigt. Wir werden aber die Sternentstehung nie so vollständig kennen, wie ein Uhrmacher seine Uhr versteht.
Noch vor wenigen Jahrzehnten war unter Astronomen die Meinung weit verbreitet, dass Sterne zu den einfachsten Objekten gehörten, die im Universum entstehen. Je genauer jedoch die Naturwissenschaften die Wirklichkeit untersuchen, desto rätselhafter erscheint sie. Rätsel sind keine Fingerabdrücke eines Schöpfers, denn diese Rätsel lassen sich im Prinzip lösen. Unerklärtes ist kein zwingender Hinweis auf einen Plan. Die Aussage von Laplace, dass Gott nicht als Erklärungsgrund notwendig ist, wurde nicht widerlegt. Allerdings sind die Prophezeiungen der Aufklärung und die Angst vieler heutiger Menschen unbegründet, die Naturwissenschaften würden einmal alles erklären. Laplace täuschte sich in der Komplexität der Wirklichkeit. Selbst wenn ein Phänomen »mechanisch« erklärt wird, bleibt das Ganze rätselhaft, denn die Erklärung beinhaltet wieder neue Rätsel. Im Wort Rätsel schwingt eine subjektive Komponente mit. Es bleibt für uns ein Rätsel. Dass Rätsel bleiben und immer bleiben werden, kränkt nun aber die naturwissenschaftliche Vernunft. Ein Objekt mit Rätsel bewahrt eine gewisse Distanz, ist nicht vollständig verfügbar und bleibt geheimnisvoll. Diese Distanz verwundert und irritiert. Im ganzen Universum sind bereits 10 Trilliarden (1022) Sterne entstanden. Es ist erstaunlich, dass das Gewöhnlichste im Universum von unergründlicher Komplexität ist.
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