Das klappte etwa 14 Jahre. Dann wurde ich des Reisens müde und suchte einen Hafen .
Nach einem Vierteljahrhundert des rastlosen Rasens um diesen Planeten im Zickzackkurs identifiziere ich mich als Europäer, und das tut gut. Bin ich aber in Europa, sehne ich mich nach dem Orient. Nach diesen anderen Farben, in diesem anderen Einfallswinkel des Lichts. Das Gras in Nachbars Garten ist immer grüner, und wenn ich über den Zaun hüpfe, verblasst es und wird normal. Und dann hüpf ich wieder und wieder, und so bleibt man jung, könnte man sagen, und fidel. Blödsinn. Ab einem bestimmten Alter wird das Reisen sinnlose Qual. Das ewige Packen, Schleppen, Schlangestehen, Einchecken, Auschecken, der Kampf mit dem Zimmer, den Fliegen, den Kakerlaken. Ich habe selbst im Taj Mahal, Bombay, zwei gesehen. Zwei riesige, fette Kakerlaken. Ich kann Paul Bowles verstehen. Ein großer Schreiber war er, viel gereist. Irgendwann wurde ihm klar: » Meine größten Feinde sind meine Füße. « Und er blieb stehen. Für immer. Paul Bowles fand seinen Hafen kraft Einsicht, da, wo er gerade war. Und er war zufällig in der Altstadt von Tanger. Vor 20 Jahren. Klasse, das war klasse. Und das kann ich mit ganzem Herzen sagen. Und mir von ganzem Herzen wünschen. Und wann werde ich es wagen? Jetzt? Hier?! Lieber würde ich den Strick nehmen. Ich bin in New Delhi. Einmal muss ich mindestens noch in den Flieger, um die Flucht zu beenden. Nur noch einmal.
Ab einem bestimmten Alter wird das Reisen sinnlose Qual .
Helge Timmerberg
• heute 70, Deutschland, Weltreisender/Abenteurer/Journalist/ Reiseschriftsteller
• seine Versuche, sesshaft zu werden, schlugen lange fehl. Er lebt mittlerweile in Wien, Berlin und St. Gallen
• schreibt unter anderem für »Stern«, »Die Zeit«, »Merian«, »SZ Magazin« und »Playboy« .
• Bücher (Auswahl):
• Lecko mio. Siebzig werden, Piper
• Tiger fressen keine Yogis. Stories von unterwegs, Solibro Verlag
• Timmerbergs Reise-ABC. Mit 21 Cartoons von Peter Puck, Piper
• Shiva Moon. Eine Reise durch Indien, Rowohlt
• In 80 Tagen um die Welt, Rowohlt
• Die rote Olivetti. Mein ziemlich wildes Leben zwischen Bielefeld, Havanna und dem Himalaja, Piper
• www.utiya-magazine.com(Reportagemagazin)
1Der Duden rät heutzutage von der Verwendung des Begriffs Mulattin ab. Ihm zufolge stammt er vom spanischen mulato = Maultier, nach dem Vergleich mit dem Bastard aus Pferd und Esel. Die Orientalistik jedoch sieht in dem Wort nichts Diskriminierendes: Ihr zufolge liegt sein Ursprung im arabischen Begriff muwallad , der eine Person mit Eltern unterschiedlicher Herkunft bezeichnet. So oder so: Der Text »Auf der Flucht« stammt aus dem Jahr 2001, und es lag der Herausgeberin mehr als fern, auch nur eine Silbe daran zu ändern.
Die geilste Lücke im Lebenslauf
Die Geschichte von Nick Martin
Wie alles begann … Ich bin rein in den Van, ich habe das Rauschen der Wellen gehört und bin mit einem Grinsen im Gesicht eingeschlafen. Das ist mir noch nie passiert. Und dann ist noch etwas passiert. Dieses Grinsen war beim Aufwachen noch da. Das ist im Jahr 2009 gewesen. Ich hatte meinen gesamten Jahresurlaub auf einmal genommen, um drei Wochen lang in Neuseeland zu reisen.
Schnell ging die Zeit vorüber und ich zurück ins Büro. Ich bin gelernter IT-Kaufmann, habe im Anzug Businesssoftware verkauft. Nun wartete ich darauf, dass die Routine zurückkam wie nach jedem Urlaub. Doch das klappte diesmal nicht, der Alltag stellte sich einfach nicht wieder ein. Meine Kollegen waren top, wir rissen Witze, verbrachten die Mittagspause zusammen, unterhielten uns auch mal über Privates. Der Job war auch super, die Software verkaufte sich wie geschnitten Brot. Mein Chef klopfte mir manchmal auf die Schulter. »Du kannst es zu was bringen«, sagte er dann. Aber ich habe auf einmal nur noch halbherzig gearbeitet, und mir wurde klar, dass mein ganzes Leben schon vorgezeichnet vor mir liegt: Karriere als Vertriebsleiter, irgendwann der eigene Firmenwagen, Aufstieg zum Niederlassungsleiter. Ich dachte: Wow, ich werd’ ’ne Menge Asche machen. Aber war’s das? Eigentlich nicht. Und der reichste Mann auf dem Friedhof werden – das ist eigentlich nicht mein Ziel .
Da bin ich hin zu meinem Chef, hab die Tür aufgerissen, auf den Boden gespuckt und gerufen: »Ich kündige!«
Nein, so war es nicht. In Wahrheit habe ich vor ihm gesessen und fast geheult. Es war mehr eine Frage, als ich sagte: »Also … dann … kündige ich?« Es war meine Reaktion darauf, dass er mich nicht gehen lassen wollte. Eigentlich hatte ich ihn nur gebeten, mir ein Jahr lang unbezahlten Urlaub zum Reisen zu geben – Rückkehr nicht ausgeschlossen.
»Bist du bescheuert?«, fragten mich meine Eltern. Sie wussten es, ich wusste es: Ich schmeiße alles weg. Meinen guten Job, der mir meinen A3 Sportback sichert, meine geräumige Dreizimmerwohnung, meine Karriere. Auch meine Freunde verstanden es nicht. »Das alles willst du aufgeben? Für eine Reise?« Ich konnte nur nicken. »Ja.«
Ich schmeiße alles weg. Meinen guten Job, meine geräumige Dreizimmerwohnung, meine Karriere .
Meine damalige Freundin hingegen bestärkte mich, obwohl sie selbst fürs Studium daheimbleiben musste. Sieben Jahre waren wir schon zusammen. Sie sagte: »Wenn du jetzt nur wegen mir bleibst, wirst du unglücklich.« Sie ließ mich gehen, entließ mich in eine wunderbare Zeit.
Die Rückkehr. Ich stehe an einem Bushaltestellenhäuschen, und der Novemberregen rieselt auf mich herab. Ich schaue auf das Datum meiner Uhr. Heute vor genau einer Woche bin ich auch nass geworden – von einer fast perfekten Welle an einem der besten Surferstrände der Welt. Da, auf meinem Board, schoss mir das Adrenalin pur durch die Adern. Ich kann es immer noch spüren. Und dann spüre ich wieder den Regen. Er dämpft die Freude, die gerade in mir aufgestiegen ist. Stattdessen steigt einmal mehr das Bild meiner Freundin vor meinem inneren Auge auf. Wie sie mir gestern gegenübersaß. Wie eine fremde Person. Ich erzählte ihr von meinen Abenteuern, doch so richtig, das war ganz deutlich zu sehen, interessierte sie sich nicht dafür. Sie erzählte mir von ihren Schülern, sprach darüber, wie sie täglich nach der Schule noch mehrere Stunden zu Hause am Schreibtisch verbringt, wie sie Klassenarbeiten korrigiert. Wenn ich ehrlich bin: So richtig interessiere ich mich auch nicht mehr für ihre Geschichten, für ihren sich permanent wiederholenden Alltag. Wir beide leben jetzt in zwei verschiedenen Welten, und die sind sehr weit voneinander entfernt.
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Die alte Frau neben mir hat angefangen zu keifen: »Warum muss dieser Bus immer zu spät kommen?« Eine andere fällt mit ein: »Ja, gestern war er auch erst um fünf nach da.« Ich schaue auf meine Hand, sehe die Schussverletzung von Fidschi. Und während ich gerade noch unter dem nassen Glasdach der Bushaltestelle stehe, befinde ich mich auf einmal unter dem warmen Wasserstrahl einer Dusche am Strand. Eine leichte Brise weht vom Meer zu mir herüber; nach mehreren Stunden Volleyball die perfekte Erfrischung. Die anderen Backpacker und ich haben gerade haushoch gegen ein paar Locals verloren, aber die Stimmung ist gut, Sieger und Verlierer albern herum, auch jetzt noch während meiner Dusch-Session.
Gerade wasche ich mir kopfüber die Haare, da höre ich, wie jemand meinen Namen ruft: »Nick! Nick, schau mal!« Ich mache die Augen auf, kann aber nichts sehen durch meine langen Strähnen. Schnell aus dem Gesicht gewischt, geben sie den Blick auf Knox frei. Er ist einer der Fidschianer aus der Siegermannschaft und zugleich einer der Angestellten meines Hostels. Keine zwei Meter steht er nun vor mir und hält etwas in der Hand. Es ist eine Harpune. Eine Harpune, die er auf mich gerichtet hält. »Der Junge macht Spaß«, geht es mir durch den Kopf. »Willst du mich abschießen oder was?«, rufe ich und lege mir eine Hand auf die Brust. Knox lacht, albert herum, visiert mich an, springt ein wenig auf der Stelle herum. Im nächsten Moment spüre ich eine Art Taubheit im rechten Daumen, mache zwei Schritte nach hinten, schaue an mir herunter, und erkenne, dass sich ein Speer in meine Brust gebohrt hat. Die Harpune war geladen?! Unter mir breitet sich langsam eine Blutlache aus.
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