Der Leichenwagen fuhr vor, der Bestatter, der einige Männer mit sich brachte, bat uns um Kleidung, die er Sonja nach der Obduktion anziehen wollte. Anna löste sich aus meiner Umarmung, schwankte zum Schrank und suchte nach einem Bekleidungsstück. Sie drehte sich hilfesuchend zu mir, noch immer weinend bat sie mich: „Bitte Mama, hilf mir!“ Gemeinsam suchten wir Sonjas Lieblingskleid und legten es in die Hände des Bestatters. Eine unübersehbare Erschütterung zeichnete sich in den Gesichtern der Männer ab.
Sie legten Sonja in den Sarg und verschlossen ihn. Schweigend, mit langsamen aber festen, sicheren Schritten trugen sie meine Tochter aus ihrem Zuhause fort, für immer. Die Endgültigkeit schlug jetzt erbarmungslos zu und nahm mit ihrer Gewalt jeden Raum ein. Eine unerträgliche Stille stellte sich ein. „Nein, nein!“, schrie es in mir, „ich lass es nicht zu, ihr dürft mein Kind nicht mitnehmen!“ Keiner hörte mein Schreien, einen Schrei, der nicht nach außen drang, sondern den die Vernunft in die Tiefe meiner Seele presste. Ich hörte nur noch, wie der Wagen langsam über die schneebedeckte Straße fuhr und sich eine unerträgliche, dröhnende Stille verbreitete, die kaum zu ertragen war.
Kurze Zeit später …
Johannes stürmte zur Türe herein, Anna hat ihn in der Firma angerufen und ihm die Hiobsbotschaft mitgeteilt. Er war der Freund von Anna und lebte schon einige Jahre bei uns. Schockiert von dieser Nachricht und in Tränen aufgelöst, rief er: „Wo ist Sonja, wo ist sie? … Ich möchte sie sehen!“ Anna nahm seinen Arm, legte ihren Kopf auf seine Brust. Mit einer kaum hörbaren Stimme sagte sie: „Johannes, sie ist nicht mehr da. Sonja wurde weggebracht, sie wurde uns einfach genommen. Wir konnten uns nicht verabschieden, es ging alles so schnell!“
Die Umarmung wurde noch fester, ihr Körper bebte und ein schmerzvolles Schluchzen war lange zu hören, bis sie die Kraft verließ. Eine tiefe klaffende Wunde schlug sich in ihr junges Herz.
Ein energisches Klingeln an der Türe, brachte mich dazu, sie zu öffnen. Daniel, Sonjas Freund, flog mir fast in die Arme. Mit hochroten, verweinten Augen und außer Atem keuchte er: „Wo ist Sonja, wo ist meine Sonja?“ Seine Hände zitterten, verstört blickte er sich um. Ich konnte ihm keine Antwort geben, wortlos nahm ich ihn in den Arm und wieder flossen meine Tränen. Johannes legte seine Hand auf Daniels Schulter und sagte: „Daniel, es tut mir so leid, aber Sonja wurde ins Krankenhaus gebracht zur Obduktion.“ Dann brach Johannes Stimme, er drehte sich zu Anna und verbarg seine Tränen auf ihrer Schulter. Hilfesuchend sah sich der junge Mann um, als würde Sonja jeden Augenblick aus ihrem Zimmer kommen. Doch plötzlich brach er in sich zusammen. Er kniete am Boden und schrie: „Nein, nein, das ist nicht wahr! Wir waren gestern noch zusammen, sie war gesund, warum soll sie tot sein?“
Ich stand immer noch ganz nahe vor Daniel und kniete mich vor nieder. Er weinte ununterbrochen, seine Hände versteckten das Gesicht und sie fingen die Tränen auf. „Daniel“, sprach ich leise, „wir werden erst gegen Mittag erfahren, warum Sonja starb.“ Er hob seinen Kopf und ich sah in verzweifelte Augen, deren Glanz gewichen war.
Daniel und Sonja waren schon drei Jahre ein Paar. Beide waren im dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Sie schmiedeten an ihren Zukunftsplänen und freuten sich an deren Verwirklichung. Der hochgewachsene junge Mann mit dem schwarzen Lockenhaar, das ihm oft in seine braunen Kulleraugen fiel, erstarrte und auch ihn umhüllte in diesen Augenblick die Dunkelheit. Seine große Liebe war gegangen, für immer. Seine Zukunft, sein Leben mit Sonja zu verbringen war unwiderruflich beendet. Daniel blieb noch lange bei uns. Ein Tuch des Schweigens schlang sich um uns, als wollte es uns schützen. Wenn Tränen ein schweres Gewicht hätten, würde man sie stetig fallen hören.
Die Gerüchteküche
Wenige Stunden danach wurden Gerüchte verbreitet, Sonja hätte Selbstmord begangen. Ein Bekannter rief mich an, dass Zugreisende sich mit den Neuigkeiten des Tages, „… ein junges Mädchen hätte sich am frühen Morgen erhängt!“, auseinandersetzten.
Mittags erfuhren wir durch die Ärzte des Krankenhauses, dass Sonja an einem Aneurysma verstorben war. Eine Ausbuchtung einer Arterie im Gehirn, eine Zeitbombe, die ihr junges Leben einfach ausgelöscht hatte. Die Nachricht von Sonjas „Selbstmord“ war inzwischen zur Wahrheit der Öffentlichkeit geworden – unumstößlich! Nachbarn erzählten, wie sich die „Wahrheit“ von Stunde zu Stunde veränderte und sich weiter wie ein Feuer ausbreitete.
Noch am selben Tag wurde ich auf der Straße von einem Mann angesprochen, der mich ganz außer sich fragte: „Was hat sich deine Tochter dabei gedacht, warum hat sie das getan, weshalb nimmt sich so ein junger Mensch das Leben?“
Er stand dicht vor mir, in einer Haltung der Neugier und Lust, den Grund zu erfahren, ein verstecktes Grinsen im Gesicht. Ich spürte, wie meine Augen sich mit glühenden Tränen füllten, ein Gefühl der Schutzlosigkeit überfiel mich und trieb mich in eine Abwehrhaltung, um mich zu schützen. Doch dann kamen Wut und Verachtung über diese Darstellung seiner festen Überzeugung, die er als Wahrheit hinstellte. Ich spürte, wie sich meine Hände zu Fäusten formten, als wollte ich jetzt einfach zuschlagen.
Ein riesiger Kloß bildete sich in meinem Hals, der mich zu ersticken drohte. Fast tonlos und brüchig vernahm ich meine Stimme: „Sonja wollte nicht sterben, sie musste!!!“
Der Mann blickte mich entgeistert an, konnte meine Reaktion sichtlich nicht verstehen, wo er doch nur „Anteilnahme“ zeigen wollte! Er wich verdattert einen Schritt zurück, drehte sich kopfschüttelnd um und verschwand.
Ich befand mich in einer schrecklichen Verfassung, wusste in diesem Augenblick nicht mehr, warum ich auf der Straße stand. Die Tränen wollten nicht mehr aufhören zu fließen.
Fluchtartig verließ ich mit schnellen Schritten diesen Ort und stürmte in meine Wohnung. Zuhause verkroch ich mich in meinem Zimmer, wollte von der Außenwelt nichts mehr hören und auf gar keinen Fall Menschen wie diesen begegnen.
Gefühllos, ohne jegliche Sensibilität, ein Schmachten nach Sensation, ein sarkastisches Verhalten, dass jede Würde eines Menschen verletzt.
Zusammengerollt, die Hände schützend über den Kopf, kauerte ich am Boden. Gedanken schossen durch meinen Kopf, wie abgehackt und nicht fertig gedacht. Wie sollte ich das begreifen, was sich in diesen wenigen Stunden für ein grausames Schicksal abgespielt hatte?
Die Leugnung ergriff mich: „Sonja ist nicht tot, nein sie lebt, sie kommt gleich nach Hause!“ Fortlaufend wiederholten sich die Worte. „Es ist nur ein böser Traum und ich werde gleich aufwachen!“
Das Telefon klingelte ständig. Angehörige und Freunde wollten wissen, was geschehen war. Viele von ihnen brachten nur noch mehr Verwirrung in mein schon zerbrochenes Herz.
Eine Bekannte erkundigte sich nach meinem Befinden. Als sie meine Verzweiflung hörte, gab sie mir den Rat: „Geh zum Frisör oder in die Sauna, du musst dich ablenken!“ Der Hörer fiel mir aus der Hand, ich ergriff ihn wieder, hörte meine Stimme, sie klang wie ein hart fallender Beton auf Stein, dann legte ich auf.
In meinem Zimmer ließ ich den Tränen ihren Lauf, die Wut, die Enttäuschung über so unüberlegte, ja sogar herzlose Aussagen verwandelte sich in eine tiefe Traurigkeit.
Mein Kind ist gerade gestorben … und man empfiehlt mir die Sauna!!!!!!!!“ Ich will keine Sauna, keinen Frisör, ich will zu meiner Sonja, ich will sterben, nur sterben.
Halb erstarrt saß ich auf einem Stuhl, starrte ins Leere. Ständig schrie es in mir: „Ist niemand da, der meine Sonja zurückholt?“ Jemand, der diesen grausamen Film, der nicht in mein Leben gehört, zurückspult und mir sagt: „Alles ist gut, es ist ein Irrtum!“
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