Übrigens hatte ich im Februar 2020 meine Selbstständigkeit in Linden aufgegeben und war hierher nach Mühlethurnen gezogen, wo ich ganz in der Nähe meiner Eltern auf eine wunderschöne Wohnung gestoßen war – zur riesigen Erleichterung vor allem meiner Mutter. Sie hatte sich ständig Sorgen gemacht, wenn sie mich zum Beispiel nicht auf dem Mobiltelefon erreichen konnte. Jetzt entlastet sie mich im Haushalt, damit ich meine Energie, oder was mir davon noch geblieben ist, für schönere Dinge einsetzen kann. Dafür möchte ich ihr an dieser Stelle danken!
Was ich mir für die Zukunft wünschen würde? Eine höhere IV-Rente würde mich von den finanziellen Ängsten erlösen und mir sogar von Zeit zu Zeit eine Verschnaufpause wie jene in der Herberge Häutligen 6ermöglichen, die ich im September genießen durfte. In Häutligen wurde ich angeleitet, meine Grenzen zu akzeptieren, und ich wurde liebevoll unterstützt auf dem Weg zu mir selbst, denn die Menschen dort sahen und nahmen mich so, wie ich bin. Und dort konnte ich bei der täglichen Meditation am Morgen und Abend zur Ruhe kommen.
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der ME/CFS als neurologische Krankheit bekannt und anerkannt ist, sodass ich mich nicht dauernd erklären und rechtfertigen muss. Und natürlich wünsche ich mir auch mein Leben zurück, in dem ich meinen Beruf als Rhythmiklehrerin zumindest stundenweise ausüben und am sozialen Geschehen in meinem Umfeld teilhaben kann.
Ja, ich wünsche mir, dass ich den Wartesaal verlassen kann, in dem ich seit Jahren lebe, durch dessen Fenster ich zuschaue, wie die Züge vorbeischnauben, in dem ich vergeblich darauf warte, dass einer anhält und mich zurück ins Leben bringt.
Meinen Rucksack mit den Schmerzen, der Erschöpfung und der Hoffnungslosigkeit würde ich auf dem Bänklein im Wartesaal zurücklassen.
Ursachen von ME/CFS
Die meisten ME/CFS-Betroffenen sind, bevor die Krankheit ihr Dasein umkrempelt, völlig gesund und führen ein aktives Leben. Warum es dazu kommt, ist noch weitgehend ungeklärt. Bei den Ursachen scheint es sich um äußerst komplexe Vorgänge zu handeln, für deren besseres Verständnis in der Fachliteratur oft ein dreistufiges Modell herangezogen wird:
Stufe 1 – prädisponierende Faktoren (predisposing factors),
Stufe 2 – beschleunigende Faktoren (precipitating factors),
Stufe 3 – verfestigende Faktoren (perpetuating factors).
1 Prädisponierende Faktoren
Die prädisponierende Ebene ist multifaktoriell, und die Faktoren sind individuell recht unterschiedlich.
1.1 Genetische Prädisposition,
1.2 Ereignisse in der Umwelt, die einen Einfluss auf das neurologische System und auf das Immunsystem haben und die Empfänglichkeit für Infektionen erhöhen.
2 Beschleunigende Faktoren
2.1 Sehr häufig fungiert eine virale, eine bakterielle oder auch eine parasitäre Infektion als Auslöser/Trigger der Erkrankung.
Folgende Virusinfektionen werden mit ME assoziiert (die Liste ist nicht vollständig): Infektionen
– mit Herpesviren, zu denen u. a. das Epstein-Barr-Virus resp. das Pfeiffersche Drüsenfieber, das humane Herpesvirus Typ 6 (Auslöser des Dreitagefiebers und in seltenen Fällen einer Hirnhaut- oder Hirnentzündung u. a.) und das Cytomegalovirus (verursacht, wenn überhaupt, meist unspezifische grippeartige Symptome) gehören,
– mit dem Enterovirus, zum Beispiel dem Coxsackie-Virus (Hirnhautentzündung, Herzmuskelentzündung u. a.),
– mit dem Parvovirus B-19 (Ringelröteln, Gelenkschmerzen),
– mit Retroviren (Auslöser u. a. von HIV),
– mit Grippeviren,
– mit SARS und
– eventuell auch mit SARS-CoV-2 (Covid-19-Erkrankung).
Folgende bakterielle Infektionen werden als Trigger genannt (auch diese Liste ist nicht vollständig):
– die Lyme-Borreliose (meist ohne Symptome verlaufend, kann aber auch zu ganz unterschiedlichen Krankheitsbildern mit schweren Spätfolgen führen),
– eine durch Chlamydophila pneumoniae verursachte Lungenentzündung, durch Mykoplasmen verursachte Entzündungen (z. B. ebenfalls eine Lungenentzündung),
– Coxiella-burnetii-Infektion (Q-Fieber, das häufig keine oder nur leichte grippale Symptome auslöst, aber auch zu schweren Komplikationen wie etwa einer Herz-, Lungen- oder Leberentzündung führen kann),
– Legionellose (kann symptomlos bleiben, grippeähnliche Symptome oder gar eine schwere Lungenentzündung verursachen),
– Salmonellen (meist abrupt einsetzender Durchfall, begleitet von Bauchschmerzen, manchmal Erbrechen, Übelkeit und Fieber).
Diskutiert wird auch der Parasit Giardia, der die infektiöse Durchfallerkrankung Giardiasis hervorruft.
2.2 Vermutlich spielen manchmal, zusätzlich zu einer Infektion, noch andere Faktoren eine Rolle: Kontakt mit Gift, Pestiziden, Insektiziden oder Schimmel, ein körperliches oder auch ein schweres psychisches Trauma, eine Impfung, eine Chemotherapie u. a.
Der genaue Zusammenhang zwischen den beschleunigenden Faktoren (Triggern) und dem Ausbruch von ME/CFS ist nicht geklärt.
Im Folgenden seien ein paar Forschungsergebnisse angedeutet:
Als verfestigende Faktoren werden u. a. eine Dysregulation der Wege des Immunsystems (3.1), die Rolle von Infektionen (3.2), der Energiestoffwechsel der Muskeln (3.3), Prozesse des zentralen Nervensystems (3.4) und der Genexpression – wie kommt die genetische Information eines Gens zum Ausdruck? – genannt (3.5).
3.1 Dysregulation der Wege des Immunsystems: Für ein fehlreguliertes Immunsystem spricht die Tatsache, dass in Untersuchungen von ME/CFS-Patient:innen ein erhöhtes Level an Antikörpern, T-Zellen (weißen Blutzellen, die der Immunabwehr dienen) und Zytokinen (Proteinen, die bei der Koordination der Immunabwehr eine wichtige Rolle spielen) dokumentiert wurde, was auf eine chronische Aktivierung des Immunsystems hinweist.Die Trigger könnten auch eine Autoimmunität, eine Überreaktion des Immunsystems, verursachen, sodass dieses nicht nur körperfremde, sondern auch eigene Zellen sowie eigenes Gewebe angreift.
3.2 Bei ME/CFS-Betroffenen kommt es öfters zu Reaktivierungen von latenten Infektionen, welche ihrerseits eine Immunantwort provozieren.
3.3 Auffälligkeiten des Energiestoffwechsels der Muskeln beweisen, dass die Belastungsintoleranz (PEM, siehe auch Seite 190) nicht auf Inaktivität und De-Konditionierung zurückzuführen ist.
3.4 Das zentrale Nervensystem scheint eine Rolle zu spielen bei der Entstehung der mentalen und körperlichen Müdigkeit. Dabei könnten auch die Basalganglien im Hirn, bei denen Auffälligkeiten entdeckt wurden, involviert sein. Radiologische Verfahren (MRI, SPECT, PET) dokumentieren pathologische Zustände vor allem in den basalen Gehirnregionen bei ME/CFS- und bei Long-Covid-Patient:innen.In mehreren Studien konnte zudem eine Neuroinflammation (eine Entzündung von Nervengewebe in Gehirn und Rückenmark) nachgewiesen werden.
3.5 Es scheinen einige Auffälligkeiten bei der Genexpression von ME/CFS-Patient:innen vorzukommen, zum Beispiel das vermehrte Auftreten von Genvarianten (Gen-Polymorphismen).Doch diese Erkenntnisse und auch die zahlreichen weiteren Störungen, die als verfestigende Faktoren genannt werden,7 reichen nicht, um das große Spektrum an ME/CFS-Symptomen zu erklären.
3 In der Schweiz: Die Sekundarstufe I schließt an die Primarschule an. Darauf folgen die Berufsbildung oder eine weiterführende Schule (Maturitätsschule oder Fachmittelschule).
4 Die Orthomolekularmedizin ist eine alternativmedizinische Methode, die auf der Annahme basiert, ein biochemisches Ungleichgewicht im Körper könne Krankheiten verursachen. Dieses Ungleichgewicht wird mit – zum Teil hochdosierten – Mineralstoffen, Spurenelementen, Vitaminen, essenziellen Fettsäuren etc. ausgeglichen.
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