Während der Fahrt unterbrach Mrs James das Schweigen.
»Ist euch jemals solch eine Gesellschaft banaler Leute vorgekommen?«
Soames, der sie unter seinen Lidern hervor flüchtig ansah, nickte und bemerkte, wie ihm Irene einen ihrer unergründlichen Blicke zuwarf. Höchstwahrscheinlich hatte jeder Zweig der Familie Forsyte auf der Heimfahrt von dem Empfang beim alten Jolyon diese Bemerkung gemacht.
Unter den letzten der aufbrechenden Gäste gingen der vierte und fünfte Bruder, Nicholas und Roger, zusammen fort und schlugen die Richtung am Hyde Park entlang zu der Praed Street Station der Untergrundbahn ein. Wie alle anderen Forsytes in einem gewissen Alter hielten sie sich eigenes Fuhrwerk und vermieden es, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, eine Droschke zu nehmen.
Es war ein schöner Tag, die Bäume des Parks standen in der vollen Pracht ihres Junilaubes, aber die Brüder schienen nicht auf die Natur zu achten, die nichtsdestoweniger zur Lebhaftigkeit ihres Ganges und der Unterhaltung beitrug.
»Ja«, sagte Roger, »eine schöne Frau, diese Gattin von Soames. Ich höre, sie verstehen sich nicht gut.«
Dieser Bruder hatte eine hohe Stirn und von allen Forsytes die frischeste Farbe. Seine hellgrauen Augen musterten die Häuser der Straßenfront am Wege, und dann und wann hob er seinen Schirm, um eine ›Monddistanz‹, wie er sich ausdrückte, der verschiedenen Höhen zu messen.
»Geld hatte sie nicht«, erwiderte Nicholas.
Er selbst hatte sehr reich geheiratet, und da es noch in der goldenen Zeit vor Einführung des Vermögensrechts der Ehefrauen10 war, hatte er glücklicherweise einen vorteilhaften Gebrauch von dem Gelde machen können.
»Was war ihr Vater?«
»Er hieß Heron, Professor, wie ich höre.«
Roger schüttelte den Kopf.
»Das bringt nichts ein«, sagte er.
»Ihr Großvater von Mutters Seite soll in Zement gearbeitet haben.«
Rogers Gesicht erhellte sich.
»Er ging aber bankrott«, fuhr Nicholas fort.
»Ah!«, rief Roger aus. »Soames wird seine Not mit ihr haben, merk dir meine Worte, er wird seine Not mit ihr haben – sie sieht ausländisch aus.«
Nicholas leckte sich die Lippen.
»Sie ist eine schöne Frau«, sagte er und winkte einem Straßenkehrer, beiseite zu gehen.
»Wie kam er eigentlich an sie heran?«, fragte Roger darauf. »Ihre Toilette muss ihn ein Heidengeld kosten!«
»Ann sagt«, erwiderte Nicholas, »er wäre ganz toll hinter ihr her. Fünfmal hat sie ihn abgewiesen. James ist die Sache fatal, das ist ihm anzumerken.«
»Ah!«, fing Roger wieder an. »Für James tut es mir leid, er hat schon mit Dartie seine Not gehabt.« Das Gehen hatte seine frische Farbe noch erhöht, er schwang den Schirm öfter denn je bis in Augenhöhe. Auch Nicholas’ Gesicht hatte einen heiteren Ausdruck.
»Zu blass für meinen Geschmack«, sagte er, »aber die Figur ist prachtvoll!«
Roger erwiderte nichts.
»Ich finde, sie sieht vornehm aus«, sagte er endlich – es war das höchste Lob im Forsyte’schen Wortschatz. »Aus diesem jungen Bosinney wird nie was – in Burkitt sagt man, er sei ein künstlerischer Junge – er hat sich in den Kopf gesetzt, die englische Architektur zu verbessern; das bringt nichts ein! Ich möchte wissen, was Timothy dazu sagt.«
Sie betraten die Station.
»Welche Klasse fährst du? Ich fahre zweiter.«
»Nur nicht zweiter«, sagte Nicholas, »man weiß nie, was man sich da holt.«
Er nahm ein Billett erster Klasse nach Notting Hill Gate, Roger eines zweiter nach South Kensington. Eine Minute später fuhr der Zug ein, die Brüder trennten sich und jeder stieg in sein Abteil. Jeder von ihnen verärgert, dass der andere nicht von der eigenen Gewohnheit abgewichen war, um seine Gesellschaft etwas länger zu genießen.
›Immer ein alter Starrkopf, dieser Nick!‹, dachte Roger bei sich.
Oder wie Nicholas es im Stillen ausdrückte:
›Ein streitsüchtiger Junge war Roger von jeher!‹
Sentimentalität war nicht gerade Sache der Forsytes. Wo sollten sie in dem großen London, das sie erobert und mit dem sie eins geworden waren, auch die Zeit hernehmen, sentimental zu sein?
Zweites Kapitel
Der alte Jolyon geht in die Oper
Mit einer Zigarre zwischen den Lippen und einer Tasse Tee auf einem Tisch neben sich saß der alte Jolyon am nächsten Tage um fünf Uhr allein. Er war müde, und ehe er noch seine Zigarre ausgeraucht hatte, schlummerte er ein. Eine Fliege setzte sich auf sein Haar, sein Atem klang schwer in der schläfrigen Stille, und seine Oberlippe hob und senkte sich unter dem weißen Schnurrbart. Die Zigarre entfiel den Fingern seiner geäderten faltigen Hand und brannte in dem leeren Kamin langsam zu Ende.
Das düstere kleine Arbeitszimmer mit Fenstern aus buntem Glas, die den Ausblick verhinderten, war mit dunkelgrünen Samt- und reichgeschnitzten Mahagonimöbeln gefüllt – eine Einrichtung, von der der alte Jolyon zu sagen pflegte: »Sollte mich nicht wundern, wenn einst ein hoher Preis dafür geboten würde!«
Es war ihm ein angenehmer Gedanke, dass die Sachen nach seinem Tode einen höheren Preis erreichen würden, als er für sie gezahlt hatte.
In der Atmosphäre von reichem Braun, die den hinteren Räumen im Hause Forsyte eigentümlich war, wurde der rembrandteske11 Eindruck seines großen Kopfes mit dem weißen Haar gegen das Kissen seines hochlehnigen Sessels durch den Schnurrbart beeinträchtigt, der seinem Gesicht einen etwas militärischen Ausdruck gab. Eine alte Uhr, die schon seit vor seiner Hochzeit vor vierzig Jahren in seinem Besitz war, verzeichnete mit ihrem Ticken eifersüchtig die Sekunden, die ihrem Herrn für immer entwichen.
Ihm lag nichts an diesem Raum, und er betrat ihn kaum jemals im ganzen Jahre, außer um Zigarren aus dem japanischen Wandschränkchen in der Ecke zu holen, und nun rächte sich der Raum.
Die Schläfen des alten Jolyon, die sich wie ein Strohdach über den Höhlen darunter wölbten, seine Backenknochen und das Kinn traten im Schlafe schärfer hervor, und sein Gesicht verriet, dass er ein alter Mann war.
Er erwachte. June war fort! James hatte gesagt, er würde einsam sein. Aber James war immer ein armseliger Tropf. Mit Genugtuung dachte er an seinen Hauskauf über James’ Kopf hinweg. Geschah ihm recht für seine Knauserei, das Einzige, woran der Kerl dachte, war Geld. Oder hatte er doch zu viel gezahlt? Es musste noch eine Menge hineingesteckt werden – wahrscheinlich würde er sein ganzes Geld brauchen, bevor die Sache mit June in Ordnung war. Er hätte diese Verlobung doch nie erlauben sollen. Sie hatte diesen Bosinney im Hause von Baynes, Baynes and Bildeboy, den Architekten, kennen gelernt. Er glaubte, Baynes, den er kannte – er hatte etwas von einer alten Frau –, war ein angeheirateter Onkel des jungen Mannes. Seitdem war sie ihm ständig nachgelaufen, und wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, war sie nicht davon abzubringen. Sie hatte immer irgendwelche armen ›Hungerleider‹ an der Hand. Dieser Bursche besaß kein Geld, aber sie musste sich durchaus mit ihm verloben – mit diesem unpraktischen Windbeutel, der dauernd in Schwierigkeiten kommen würde.
Sie war eines Tages in ihrer unverfrorenen Art zu ihm gekommen und hatte es ihm gesagt; und wie zum Trost hatte sie hinzugefügt:
»Er ist prachtvoll, er hat oft schon eine Woche lang nur von Kakao gelebt!«
»Und er möchte, dass auch du nur von Kakao lebst?«
»Oh nein; jetzt kommt er schon ins rechte Fahrwasser hinein.«
Der alte Jolyon hatte seine Zigarre unter dem weißen, an den Enden mit Kaffee gefärbten Schnurrbart hervorgenommen und das winzige Ding angeschaut, das eine solche Macht über sein Herz gewonnen hatte. Er wusste über ›Fahrwasser‹ besser Bescheid als seine Enkelin. Aber sie hatte sich mit den Händen auf seine Knie gestützt, ihr Kinn an ihm gerieben und einen Laut von sich gegeben wie eine schnurrende Katze. Und er hatte, die Asche von seiner Zigarre klopfend, in nervöser Verzweiflung ausgerufen:
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