1 ...6 7 8 10 11 12 ...30 Er war zu alt, um ein Liberaler zu sein, und hatte längst aufgehört, an die politischen Doktrinen seines Klubs zu glauben; man wusste sogar, dass er sie für ›dummes Zeug‹ erklärt hatte, und es machte ihm Spaß, trotz der Prinzipien, die den seinen widersprachen, weiter Mitglied zu bleiben. Er hatte immer eine gewisse Geringschätzung für den Klub gehabt und war ihm vor vielen Jahren nur beigetreten, weil man sich geweigert hatte, ihn im Hotch Potch aufzunehmen, weil er dem ›Kaufmannstande‹ angehörte. Als ob er nicht ebenso gut gewesen wäre wie einer von ihnen! Natürlich verachtete er den Klub, der ihn aufgenommen hatte . Seine Mitglieder waren ein armseliger Haufen, viele von ihnen Börsenmakler, Anwälte, Auktionatoren und wer weiß was sonst noch, in der City! Wie die meisten Männer von starkem Charakter, aber nicht allzu großer Originalität, hielt der alte Jolyon nicht viel von der Klasse, der er selbst angehörte. Getreulich richtete er sich nach ihren sozialen und sonstigen Gewohnheiten, betrachtete sie im Geheimen aber als ›ordinären Haufen‹.
Die Jahre und seine Philosophie hatten die Erinnerung an seine Niederlage im Hotch Potch etwas verwischt, und im Herzen betrachtete er ihn jetzt als Königin der Klubs. Er hätte schon all diese Jahre hindurch Mitglied sein können, aber dank der nachlässigen Art, mit der Jack Herring, der ihn vorgeschlagen hatte, zu Werke gegangen war, wussten sie nicht, was sie taten, als sie ihn abwiesen. Seinen Sohn Jo hatten sie ja gleich aufgenommen, und der Junge war wahrscheinlich noch Mitglied, denn er hatte vor acht Jahren einen Brief bekommen, der von dort datiert war.
Seit Monaten war er nicht in seinem Klub gewesen, und das Haus war inzwischen mit einer Buntheit aufgefrischt worden, wie sie bei alten Häusern und alten Schiffen angewendet wird, die man gern verkaufen möchte.
›Schauderhafte Farbe, dieser Rauchsalon!‹, dachte er. ›Der Speisesaal ist gut.‹
Das düstere Schokoladenbraun, mit hellem Grün durchsetzt, war nach seinem Geschmack.
Er bestellte das Essen und setzte sich in dieselbe Ecke, vielleicht an denselben Tisch (im Disunion, wo man fast radikalen Prinzipien huldigte, war von Fortschritten nicht viel zu merken), an dem er und sein Sohn vor fünfundzwanzig Jahren zu sitzen pflegten, wenn er ihn während der Ferien zuweilen mit in die Drury Lane nahm.
Der Junge schwärmte fürs Theater, und der alte Jolyon erinnerte sich, wie er ihm gegenüber zu sitzen pflegte und seine Aufregung hinter einer absichtlichen, aber sehr durchsichtigen Gleichgültigkeit zu verbergen suchte.
Er bestellte für sich auch genau dasselbe Dinner, das sich der Junge immer ausgesucht hatte – Suppe, Sprotten, Koteletts und eine Tarte. Ach, wenn er ihm doch jetzt gegenübersäße!
Die beiden hatten sich seit vierzehn Jahren nicht mehr gesehen. Und nicht zum ersten Mal während dieser vierzehn Jahre dachte der alte Jolyon darüber nach, ob er sich in der Sache mit seinem Sohn wohl etwas vorzuwerfen hatte. Eine unglückliche Liebesgeschichte mit der reizenden, koketten Danäe Thornworthy, jetzt Danäe Pellew, Anthony Thornworthys Tochter, hatte seinen Sohn auf der Suche nach Trost Junes Mutter in die Arme getrieben. Er hätte ihre Heirat vielleicht verhindern sollen, sie waren noch zu jung; aber nachdem er gesehen hatte, wie leicht entflammt Jo sein konnte, war er nur zu eifrig darauf bedacht gewesen, ihn verheiratet zu wissen. Und nach vier Jahren war es zu dem Krach gekommen! Das Verhalten seines Sohnes bei diesem Krach zu billigen war natürlich unmöglich gewesen; Vernunft und Disziplin – jene Kombination mächtiger Faktoren, die bei ihm Grundsätze vertraten – überzeugten ihn von der Unmöglichkeit, aber sein Herz sträubte sich dagegen. Doch bei der grausamen Unbarmherzigkeit solcher Pflicht gab es kein Mitleid für Herzen. Da war June, dies Atom mit dem flammenden Haar, das ganz und gar Besitz von ihm genommen hatte, völlig verwebt und verwachsen mit seinem Herzen. Und dies Herz war wie dazu geschaffen, ein Spielball und die Lieblingszuflucht winziger hilfloser Wesen zu sein. Mit charakteristischer Einsicht erkannte er, dass er sich von dem einen oder dem andern trennen müsse; halbe Maßregeln konnten in einer solchen Lage nichts nützen. Darin lag ihre Tragik. Und das winzige hilflose Wesen trug den Sieg davon. Er wollte nicht mit den Hasen laufen und mit den Hunden hetzen, und darum trennte er sich von seinem Sohn.
Diese Trennung hatte bis jetzt gewährt.
Er hatte dem jungen Jolyon einen kleinen Zuschuss angeboten, der aber hatte diesen zurückgewiesen, und diese Abweisung hatte ihn vielleicht mehr verletzt als alles andere, denn damit war die letzte Möglichkeit dahin, seine unterdrückte Liebe zum Ausdruck zu bringen; und es war zu einem so greifbaren und festen Beweis eines Bruches gekommen, wie ihn sonst nur Eigentumstransaktionen, die Zustimmung oder die Verweigerung solcher liefern können.
Das Essen schmeckte flau. Der Champagner war trocken und bitter, nicht wie der Veuve Cliquot in alten Tagen.
Bei seiner Tasse Kaffee kam ihm der Gedanke, ins Theater zu gehen. Er las daher in der Times – anderen Zeitungen schenkte er keinen Glauben – die Ankündigungen für den Abend durch. Es wurde Fidelio gegeben.
Glücklicherweise nicht eine jener neumodischen deutschen Pantomimen von diesem Wagner.
Er setzte seinen alten Chapeau claque auf, der mit seinem ungeheuren Umfang und der vom Gebrauch abgenutzten Krempe einem Sinnbild besserer Tage glich, zog ein paar alte, sehr dünne, lavendelfarbene Glacéhandschuhe hervor, die infolge der gewohnten Nachbarschaft mit dem Zigarrenetui in der Rocktasche stark nach Juchtenleder rochen, und stieg in eine Droschke.
Der Wagen rasselte fröhlich durch die Straßen, deren ungewöhnliche Belebtheit den alten Jolyon überraschte.
›Die Hotels müssen ein ungeheures Geschäft machen‹, dachte er. Vor ein paar Jahren hatte es hier noch keins dieser großen Hotels gegeben. Mit Befriedigung erinnerte er sich eines Grundstücks in der Nähe, das ihm gehörte. Sein Wert musste mit rapider Geschwindigkeit steigen! Was für ein Verkehr!
Aber dann versank er in eine jener sonderbaren unpersönlichen, für einen Forsyte so uncharakteristischen Betrachtungen, auf denen aber zum Teil das Geheimnis seiner Überlegenheit über die anderen beruhte. Was für Atome waren doch die Menschen, und was für eine Menge gab es! Und was würde aus ihnen allen werden?
Er stolperte, als er aus der Droschke stieg, gab dem Kutscher genau den Fahrpreis, ging an die Kasse, um sein Billett zu kaufen und stellte sich mit der Börse in der Hand davor hin – er trug sein Geld immer in einer Börse bei sich und hatte die Gewohnheit, es lose in der Tasche zu tragen, wie so viele junge Leute es heutzutage taten, nie gebilligt. Der Kassierer steckte den Kopf heraus wie ein alter Hund aus seiner Hütte.
»Ist’s möglich!«, sagte er in überraschtem Tone. »Sie sind’s, Mr Jolyon Forsyte! Wirklich! Habe Sie seit Jahren nicht gesehen, Sir! Du lieber Himmel! Die Zeiten haben sich geändert! Ja, ja, Sie und Ihr Herr Bruder und der Auktionator – Mr Traquair, und Mr Nicholas Treffry –, Sie hatten hier regelmäßig sechs oder sieben Plätze in jeder Spielzeit. Und wie geht’s Ihnen denn, Sir? Man wird nicht jünger!«
Die Farbe in den Augen des alten Jolyon vertiefte sich; er zahlte seine Guinee. Man hatte ihn nicht vergessen. Er schritt unter den Klängen der Ouvertüre hinein wie ein altes Schlachtross in den Kampf.
Seinen Hut zusammenklappend, setzte er sich, zog die lavendelfarbenen Handschuhe in gewohnter Weise aus und sah sich mit seinem Glas lange im Hause um. Endlich ließ er es auf seinen zusammengeklappten Hut sinken und heftete den Blick auf den Vorhang. Eindringlicher denn je fühlte er, dass es mit ihm aus und vorbei war. Wo waren all die Frauen, die schönen Frauen, von denen das Haus sonst so voll gewesen war? Wohin war das alte Gefühl im Herzen, wenn er auf eine der großen Sängerinnen gewartet hatte? Wo jene Empfindung des Lebensrausches und die eigene Fähigkeit, das alles zu genießen?
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