Bei ruhiger Überlegung unter seinen Bildern hatte er beschlossen, die fünfhundert Pfund noch zuzuschießen, wenn es notwendig war, aber er hoffte, dass der Nachmittag Bosinneys Kostenvoranschlag vielleicht herabgemindert hatte. Es war ihm sicher ein Leichtes, die Sache zu ändern; es musste doch mehr als einen Weg geben, die Kosten zu verringern, ohne die Wirkung zu beeinträchtigen.
Er wartete darum eine gelegene Zeit ab, bis Irene dem Architekten die erste Tasse Tee reichte. Ein Sonnenstrahl, der durch die Spitzen des Fenstervorhangs fiel, wärmte ihre Wange, leuchtete im Gold ihres Haares und in ihren sanften Augen. Derselbe Strahl vielleicht erhöhte auch Bosinneys Farbe und gab seinem Gesicht diesen fast bestürzten Ausdruck.
Soames war Sonnenschein verhasst, darum stand er sofort auf und zog die Vorhänge zu. Darauf nahm er seine Tasse Tee aus den Händen seiner Frau und sagte in kühlerem Ton, als er beabsichtigt hatte:
»Gibt es keine Möglichkeit, es doch für achttausend zu machen? Sie könnten gewiss eine Menge Kleinigkeiten ändern?«
Bosinney trank seine Tasse in einem Zuge aus und antwortete:
»Nicht eine!«
Soames sah, dass seine Frage einen unverständlichen Punkt von Bosinneys persönlicher Eitelkeit getroffen hatte.
»Gut«, erwiderte er in verdrießlicher Nachgiebigkeit, »es muss wohl alles nach Ihrem Willen gehen, vermute ich.«
Wenige Minuten später erhob sich Bosinney, um zu gehen, und Soames stand ebenfalls auf, um ihn hinauszubegleiten. Der Architekt schien in unglaublich guter Laune zu sein. Nachdem er ihn mit raschen Schritten hatte fortgehen sehen, kehrte Soames verstimmt in den Salon zurück, wo Irene die Noten wegräumte, und fragte in einem Anfall unwiderstehlicher Neugierde:
»Na, wie findest du denn den ›Bukanier‹?«
Er sah auf den Teppich, während er auf ihre Antwort wartete, und die ließ eine ganze Weile auf sich warten.
»Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich.
»Findest du, dass er gut aussieht?«
Irene lächelte. Und Soames hatte die Empfindung, dass sie sich über ihn lustig mache.
»Ja«, erwiderte sie, »sehr.«
Neuntes Kapitel
Gegen Ende September kam ein Morgen, an dem Tante Ann unfähig war, die Abzeichen ihrer persönlichen Würde aus den Händen ihres Mädchens entgegenzunehmen. Nach einem Blick auf das alte Gesicht verkündigte der Arzt, den man eiligst herbeigerufen hatte, dass Miss Forsyte hinübergeschlummert sei.
Die Tanten Juley und Hester waren von Schreck überwältigt. An ein solches Ende hatten sie nie gedacht. Wahrscheinlich hatten sie sich überhaupt niemals vorgestellt, dass einmal ein Ende kommen musste. Im Geheimen fanden sie es unbegreiflich von Ann, sie so ohne ein Wort, ja selbst ohne jeden Kampf verlassen zu haben. Es sah ihr gar nicht ähnlich.
Was sie so tief ergriff, war vielleicht der Gedanke, dass eine Forsyte das Leben so hatte fahren lassen können. Wenn eine, warum dann nicht alle!
Es währte eine volle Stunde, ehe sie sich entschließen konnten, es Timothy zu sagen. Wenn man es ihm doch nur verheimlichen könnte! Oder es ihm allmählich beibringen!
Lange standen sie flüsternd vor seiner Tür. Und als es überstanden war, flüsterten sie wieder miteinander.
Sie fürchteten, dass er es mit der Zeit immer mehr empfinden würde. Indessen hatte er es besser aufgenommen, als sie erwarten konnten. Allerdings musste er das Bett hüten!
Sie trennten sich, jede leise weinend.
Tante Juley blieb, von dem Schlag niedergeworfen, in ihrem Zimmer. Ihr von Tränen entstelltes Gesicht war durch kleine Wülste vorquellenden Fleisches, das vor Erregung geschwollen war, in Felder eingeteilt. Ein Leben ohne Ann, mit der sie, nur durch das Interregnum ihrer kurzen Ehe, die ihr jetzt so unwirklich vorkam, dreiundsiebzig Jahre zusammengelebt hatte, schien ihr undenkbar. In bestimmten Abständen ging sie an ihre Kommode und nahm unter den Lavendelsäckchen ein frisches Taschentuch heraus. Ihr warmes Herz konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Ann so kalt dalag.
Tante Hester, die schweigsame, geduldige, dies Stauwasser der Familienenergie, saß bei zugezogenen Vorhängen im Salon. Auch sie hatte zuerst geweint, aber still, ohne sichtbare Wirkung. Ihr Hauptprinzip, die Energie aufrechtzuerhalten, verließ sie auch im Kummer nicht. Schmächtig und reglos saß sie da, den Blick unverwandt auf den Kaminrost gerichtet, die Hände müßig im Schoße ihres schwarzen Seidenkleides. Bald würde man sie wahrscheinlich aufstören und verlangen, dass sie etwas tue. Als ob das irgendeinen Zweck hätte! Es würde Ann nicht wieder zum Leben erwecken. Wozu würde man sie quälen?
Zum Tee um fünf Uhr kamen drei von den Brüdern, Jolyon, James und Swithin. Nicholas war in Yarmouth und Roger hatte einen schweren Gichtanfall. Mrs Hayman, die vorher schon allein dagewesen war und, nachdem sie Ann gesehen hatte, wieder fortgegangen war, hatte Timothy sagen lassen – doch es wurde ihm nicht bestellt –, man hätte es sie früher wissen lassen sollen. Eigentlich beherrschte sie alle ein Gefühl, dass man sie früher hätte benachrichtigen sollen, als ob sie etwas versäumt hätten. James sagte schließlich:
»Ich habe es lange kommen sehen; sagte ich euch nicht, sie werde den Sommer nicht überleben?«
Tante Hester antwortete nicht; es war fast Oktober, aber wozu darüber streiten; manche Leute sind nie zufrieden.
Sie schickte hinauf, um der Schwester sagen zu lassen, dass die Brüder da seien. Mrs Small kam sofort herunter. Sie hatte ihr Gesicht gebadet, das immer noch geschwollen war, und obwohl sie streng auf Swithins Beinkleider blickte, denn sie waren von hellem Blau – er war direkt aus dem Klub gekommen, wo ihn die Nachricht erreicht hatte –, sah sie heiterer aus als sonst, denn ihr Instinkt, das Falsche zu tun, verleugnete sich auch jetzt nicht.
Alsdann gingen alle fünf hinauf, um die Leiche zu sehen. Unter das reine weiße Laken war eine Steppdecke gebreitet, denn jetzt bedurfte Tante Ann der Wärme mehr denn je; die Kissen waren entfernt, und Kopf und Rücken ruhten flach in unbeugsamer Steifheit, wie man sie ihr Leben lang gekannt hatte. Ein Häubchen, an beiden Seiten bis zu den Ohren herabgezogen, umrahmte ihre Stirn, und zwischen ihm und dem weißen Laken wandte sich ihr Gesicht, fast ebenso weiß wie dieses, mit geschlossenen Augen den Gesichtern ihrer Brüder und Schwestern zu. In seinem unaussprechlichen Frieden war das Gesicht stärker denn je, fast nur Knochen unter dem kaum runzligen Pergament der Haut – das eckige Kinn, der Kiefer, die Backenknochen, die Stirn mit den eingefallenen Schläfen, die gemeißelte Nase – diese Festung eines unbesiegbaren Geistes, die sich dem Tod ergeben hatte, und in seiner nach oben gerichteten Blindheit schien es, den Geist zurückholen zu wollen, die Herrschaft, die es eben niedergelegt hatte, zurückgewinnen zu wollen.
Swithin warf nur einen Blick auf das Antlitz und verließ das Zimmer wieder; bei dem Anblick, sagte er hernach, wäre ihm sehr sonderbar zumute gewesen. Er ging hinunter, wobei das ganze Haus unter seinem Schritt bebte, nahm seinen Hut und stieg in seinen Wagen, ohne dem Kutscher irgendeine Richtung anzugeben. Dieser fuhr ihn nach Hause, und dort saß er den ganzen Abend in seinem Sessel, ohne sich zu regen.
Bei Tisch nahm er nichts als ein Rebhuhn und einen stattlichen Becher Champagner …
Der alte Jolyon stand mit gefalteten Händen am Fußende des Bettes. Er allein von allen im Zimmer erinnerte sich noch des Todes seiner Mutter, und obwohl er Ann anblickte, weilten seine Gedanken doch bei ihr. Ann war alt geworden, aber schließlich war der Tod zu ihr gekommen – der Tod kam zu allen! Nichts in seinem Gesicht bewegte sich, sein Blick schien von weither zu kommen.
Neben ihm stand Tante Hester. Sie weinte jetzt nicht mehr, die Tränen waren versiegt – ihre Natur wehrte sich gegen einen weiteren Kraftaufwand; mit ineinandergeschlungenen Händen blickte sie, nicht auf Ann, sondern von einer Seite zur anderen, als suche sie auf irgendeine Art der Anstrengung zu entrinnen, sich das Geschehene als wirklich vorzustellen.
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