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Das tatbestandsmäßige Handlungsmerkmal der vorsätzlichen und fahrlässigen Tötungsdelikte ist die Tötung. Nichts anderes ist mit dem Merkmal „Tod … verursacht“ in § 222 StGB gemeint. Denn Tötung bedeutet Verursachungdes Todeserfolges.[58] Da der objektive Tatbestand der Aussetzung (§ 221 StGB) keinen Todeserfolg beinhaltet, kann auch die tatbestandserfüllende Aussetzungshandlung nicht als Tötung bezeichnet werden (näher dazu unten Rn. 63). Die dogmatischen Details des Tatbestandsmerkmals Tötung sind Themen des Allgemeinen Strafrechts. Danach richten sich die Bedingungen der Kausalität sowie der objektiven Zurechnung des Todeserfolgs.[59] Ebenfalls im Allgemeinen Teil des Strafrechts sind die Grundlagen für die strafrechtliche Bewertung eines todesursächlichen Verhaltens bei Beteiligung mehrerer Personen. Wer mit einem anderen zusammen dazu beiträgt, dass ein Mensch zu Tode kommt, kann Täter oder Teilnehmer eines Tötungsdelikts sein. Die Abgrenzung richtet sich nach §§ 25 ff. StGB. Tötung kann auch ein Unterlassen sein (zum Mord durch Unterlassen siehe unten Rn. 46 f.). Die Ursächlichkeit für den Todeserfolg wird ermittelt, indem ein hypothetischer Befund durch Hinzudenken der unterlassenen Handlung erhoben wird. Ursächlich ist die Unterlassung, wenn die hinzugedachte Handlung ihn verhindert hätte. Tatbestandsmäßige Tötung ist derartig kausales Unterlassen allein bei Bestehen einer Erfolgsverhinderungspflicht, also einer Garantenstellung, § 13 StGB.[60] Auch das ist ein Thema des Allgemeinen Strafrechts.
III. Vorsätzliche Tötungsdelikte
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Der Totschlag ist in § 212 StGB normiert. Totschlag ist vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen. Nach überwiegender Ansicht in der Literatur ist der Totschlag der Grundtatbestandder vorsätzlichen Tötungsdelikte.[61] Auf ihm baut der Tatbestand Mord (§ 211 StGB) als Qualifikation auf. Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) ist im Verhältnis zum Totschlag ein Privilegierungstatbestand. Das systematische Verhältnis der Tötungstatbestände zueinander ist Gegenstand andauernder Meinungsverschiedenheiten zwischen Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft. Die Rechtsprechung sperrt sich gegen die Sichtweise der Lehre, nach der Mord und Tötung auf Verlangen durch Hinzufügung spezieller Merkmale geschaffene unselbstständige Abwandlungen des Grundtatbestandes Totschlag sind. Der Streit hat ergebnisbeeinflussende Auswirkungen bei Taten mit mehreren Beteiligten. Die dogmatische Relevanz versteht man nur vor dem Hintergrund der verschiedenen Mordmerkmale. Daher wird unten ( Rn. 48 ff.) darauf näher eingegangen. Vom Mord unterscheidet sich der Totschlag durch das Fehlen jeglicher über die vorsätzliche Tötung hinausgehender Merkmale, von deren Erfüllung die Tatbestandsmäßigkeit abhinge. Der Totschlagstatbestand blendet alle Einzelheiten des Tathergangs, der Täterbeweggründe und der vom Täter mit der Tötung verfolgten Zwecke aus. Daher ist der typische Totschlagsfall, dessen reales Erscheinungsbild der kargen Tatbeschreibung im Gesetz am nächsten kommt, die im Affekt begangene Tötung. Soweit die Tat von objektiven oder subjektiven Umständen geprägt wird, die Einfluss auf den Grad des Unrechts oder der Schuld haben, ist dies bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.[62] Erreicht das Gewicht solcher Umstände den Schweregrad eines Mordes, ist ein besonders schwerer Fall anzunehmen und lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen, § 212 Abs. 2 StGB.[63] Der subjektive Tatbestand des Totschlags verlangt Vorsatz, § 15 StGB. Ausreichend ist bedingter Tötungsvorsatz. Das gilt auch für den Totschlagsversuch (§§ 212, 22 StGB). Rechtswidrig ist der Totschlag, wenn er nicht gerechtfertigt ist. Der Tod eines Menschen ist, wenn er durch menschliches Verhalten verursacht wurde, schwerstes Unrecht. Daher ist die Rechtfertigung eines Totschlags nur ausnahmsweise möglich. Unanwendbar sind die Rechtfertigungsgründe Einwilligung und Notstand.[64] Möglich ist eine Rechtfertigung des Totschlags durch Notwehr (§ 32 StGB).[65] Totschlag durch Unterlassen kann durch Pflichtenkollision gerechtfertigt sein.[66] In Situationen extremen psychischen Drucks kann ein Totschlag entschuldigt sein, §§ 33, 35 StGB.
2. Mord
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Die Entstehungsgeschichte der Mordvorschrift ist Teil der Entstehungsgeschichte der Tötungsdelikte allgemein (dazu bereits oben Rn. 1). Mord ist seit dem Reichsstrafgesetzbuch im Jahr 1871 in § 211 StGB normiert. Der Tatbestand hatte ursprünglich eine vollkommen andere Gestalt als der heute geltende § 211 StGB. Als Mord bezeichnete das Gesetz die „mit Überlegung“ begangene Tötung:[67] „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.“[68] Vorbild war der französische Code pénal, der auch heute noch einen Mordtatbestand („assassinat“, Art. 221-3 C.P.) enthält, der durch Tötung „avec préméditation“ gekennzeichnet ist. Auffallend beim Vergleich des § 211 StGB von 1871 mit der aktuellen Fassung ist neben der Unterschiedlichkeit der Mordmerkmale die tatbezogene Formulierung in dem früheren Gesetz: „wegen Mordes“ und nicht – wie jetzt noch immer – „Mörder“. Der Wandel des Sprachstils zu einer täterstrafrechtlichen Normgestaltung wurde mit der Neufassung des § 211 StGB im Jahr 1941vollzogen. Die nationalsozialistischer Strafrechtsideologie immanente „Tätertypenlehre“ fand in der täterzentrierten Festlegung der Strafbarkeitsvoraussetzungen von Mord und Totschlag Ausdruck: „Mörder“, „Totschläger“.[69] Das Mordmerkmal „mit Überlegung“ wurde durch eine Kasuistik heterogener motiv-, tatausführungs- und absichtsbezogener Mordmerkmale ersetzt. Dabei konnten sich die Nationalsozialisten zum großen Teil auf ältere Entwürfe rückbeziehen.[70] Originär nationalsozialistische Strafrechtsschöpfung sind die fragwürdigen „niedrigen Beweggründe“.[71] In einem neuen Absatz 3 wurde für „besondere Ausnahmefälle“, in denen die Todesstrafe als nicht angemessen erscheint, das Strafmaß auf lebenslange Zuchthausstrafe reduziert. Mit der Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG im Jahr 1949 war diese Milderung obsolet geworden und wurde daher im Jahr 1953 aufgehoben. Im Jahr 1977 befasste sich das Bundesverfassungsgericht anlässlich eines konkreten Normenkontrollantrags des LG Verden mit der Verfassungsmäßigkeit des § 211 StGB. Da die Entscheidung der Norm im Ergebnis Grundgesetzkonformität attestierte, gab es für den Gesetzgeber keine Veranlassung zu Änderungen auf der Tatbestandsseite der Mordvorschrift. Auch die absolute lebenslange Freiheitsstrafe blieb unangetastet. Vollstreckungsrechtlich wurde der Absolutheitscharakter durch Einführung der §§ 57a, 57b StGB abgeschwächt. Unberührt blieb § 211 StGB vom 6. Strafrechtsreformgesetz 1998, das in anderen Bereichen des Besonderen Teils erhebliche Änderungen brachte. In den Jahren 2014 bis 2017 bemühte sich der Bundesjustizminister Heiko Maas um eine Reform der Tötungsdelikte – letztlich ohne Erfolg (siehe oben Rn. 2 ff.).[72]
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Während in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland seit der Nachkriegszeit bis heute von ernsthaften Problemen bei der Anwendung des Mordparagraphen aus dem Jahr 1941 nicht berichtet wird, wurde in der Strafrechtswissenschaft die Regelung permanent kritisiert und ihre Reformierung gefordert. Ein Höhepunkt der Reformdebatte ohne legislative Folgen war die Befassung des 53. Deutschen Juristentages im Jahr 1980 mit dem Thema „Reform der Tötungsdelikte“. Auf das Referat von Albin Eser bezieht sich noch heute jeder, der sich mit Vorschlägen zur Neuregelung des Tötungsstrafrechts befasst. Der letzte große Anlauf zu einer Reform im Jahr 2014 brachte neben vielen Fachbeiträgen in Print- und online-Medien einen voluminösen Abschlussbericht einer hochkarätig besetzten vielköpfigen Expertengruppe hervor. Die Politik vermochte die Anregungen jedoch nicht vor dem Ende der 18. Legislaturperiode umzusetzen (siehe oben Rn. 2 ff.).
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