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Allerdings ist Eintritt des Todeserfolges nach Einsetzen der Eröffnungswehen oder nach Beendigung der Geburt nur ein Indiz für eine tatbestandsmäßige Tötung. Wurde nämlich die zum Todeserfolg führende Handlung vor Geburtsbeginn(pränatal) begangen, lag jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch kein „Mensch“ i.S.d. §§ 211 ff. StGB vor. Daher ist zu klären, ob der Zeitpunkt des Handlungsvollzugs oder der Zeitpunkt des Erfolgseintritts über die Menschqualität des Tatobjekts entscheidet. Stellte man auf den Zeitpunkt des Todeserfolgseintritts ab, bestünde die Gefahr, dass die Handlungsfreiheit der schwangeren Frau durch Strafdrohungen unverhältnismäßig eingeschränkt wird. Eine fahrlässige Schädigung des nasciturus, infolge der das Kind mit einer Behinderung auf die Welt kommt oder kurz nach der Geburt verstirbt, wäre als fahrlässige Körperverletzung oder fahrlässige Tötung strafbar. Dies stünde in einem Wertungswiderspruch zu §§ 218 ff. StGB:[41] fahrlässiges Fehlverhalten, das zum Abbruch der Schwangerschaft führt, wäre gemäß § 15 StGB nicht aus § 218 StGB strafbar.[42] § 229 StGB käme nicht zur Anwendung, weil der vor Beginn der Geburt „gestorbene“ nasciturus noch kein Mensch war. Die Schwangere bliebe also straffrei. Wenn aber eine schwerwiegende Fruchtschädigung, die bereits Absterben im Mutterleib zur Folge hat, straflos ist, dann darf eine Schädigung, die weniger schwerwiegend ist und die Geburt nicht verhindert, erst recht nicht strafbar sein. Hinzu kommt Folgendes: Die Aussicht ein schwer behindertes Kind zur Welt zu bringen und zudem wegen eigenen dafür ursächlichen Fehlverhaltens nach § 229 StGB strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, würde den Druck auf die Schwangere zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs erhöhen. Dieser wäre gemäß § 218a Abs. 2 StGB eventuell straflos. Zu überlegen wäre des Weiteren, ob die Schwangere aus dem Gesichtspunkt der Ingerenz[43] eine Garantenpflicht (§ 13 StGB) hätte, die Geburt des schwer behinderten Kindes zu verhindern, d.h. die Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Anderenfalls drohte ihr sogar eine Strafbarkeit wegen schwerer Körperverletzung durch Unterlassen, §§ 226 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, 13 StGB. Diese strafrechtlichen Gedankenspiele wirken schwer erträglich, ja nachgerade absurd. Aber sie haben in Gesetz und Dogmatik durchaus Rückhalt. Aus diesen Gründen muss es für die Bestimmung der Mensch-Qualität des Tatopfers auf den Zeitpunkt ankommen, zu dem die gesundheitsschädigende Wirkung der Handlung den Körper erreicht.[44] Liegt dieser vor Beginn der Geburt, ist die Tat auch dann keine tatbestandsmäßige Körperverletzung oder Tötung, wenn das Kind zur Welt kommt und mit Gesundheitsschaden lebt oder auf Grund des Schadens alsbald nach der Geburt stirbt. Im letztgenannten Fall kann die Tat als Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218 StGB strafbar sein, sofern der Täter mit entsprechendem Vorsatz (§ 15 StGB) gehandelt hat.[45]
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Die §§ 211, 212, 221 und 222 StGB bezeichnen als Opfer der Tötung einheitlich „einen Menschen“. Diese Textfassung ist ungenau, weil sie nicht zum Ausdruck bringt, dass das Tatopfer ein Mensch sein muss, der nicht der Täter selbst ist. Tötung bedeutet stets Tötung eines anderen Menschen. Täter und Opfer müssen also verschiedene Personen sein. Das gilt für alle Straftatbestände dieses Bereichs, auch für § 221 StGB und für § 222 StGB. Auch die Strafbarkeit wegen Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) an einem Tötungsdelikt setzt voraus, dass das Tatopfer mit dem Teilnehmer nicht identisch ist. Daraus folgt zunächst, dass die Selbsttötung nicht strafbar ist.[46] Ein Suizident, dessen Selbsttötungsversuch fehlgeschlagen ist, macht sich nicht wegen versuchten Totschlags (§§ 212, 22 StGB) strafbar. Heute ist es einhellige Auffassung, dass Selbsttötung bereits den objektiven Tatbestand des Tötungsdelikts nicht erfüllt.[47] Dies hat Konsequenzen für die strafrechtliche Beurteilung von Handlungen anderer Personen, die an der Selbsttötungstat aktiv mitwirken oder nicht gegen sie einschreiten. Wer dem Suizidenten hilft, indem er ihm z.B. das todbringende Medikament besorgt, macht sich nicht wegen Beihilfe zum Totschlag strafbar.[48] Denn es fehlt an der tatbestandsmäßigen Haupttat. Wer sich darauf beschränkt, den Selbsttötungsakt nicht zu verhindern, macht sich nicht wegen Beihilfe durch Unterlassen zum Totschlag strafbar.[49] Eine andere Frage ist, ob er sich als Garant wegen täterschaftlichen Totschlags durch Unterlassen strafbar macht. Dieselbe Frage kann sich auch bei aktiver Suizidunterstützung stellen: hat die vordergründig als Beihilfe erscheinende Handlung die strafrechtliche Qualität einer täterschaftlichen Fremdtötung? Die Mitwirkung an der Tat eines anderen Menschen, die dessen eigenes Leben gefährdet oder vernichtet, kann eine tatbestandsmäßige Fremdlebensgefährdung (§ 221 StGB) oder Fremdtötung (§§ 211, 212 StGB) sein. Es handelt sich um eine Erscheinungsform der mittelbaren Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB), bei der der mittelbare Täter das Opfer als „Werkzeug gegen sich selbst“ benutzt.[50] Zur Begründung dieser Fremdverantwortung muss die rechtliche Beachtlichkeit der Selbstgefährdung bzw. Selbsttötung beseitigt werden. Das ist der Fall, wenn der Suizident für das, was er tut, nicht verantwortlich ist. Dafür hat sich die Bezeichnung „Eigenverantwortlichkeit“ eingebürgert.[51] Im gleichen Sinne wird das Wort „Freiheit“ benutzt („Freitod“)[52]. Ein eigenverantwortlicher oder freier Suizid schließt strafrechtliche Verantwortlichkeit anderer aus, die Mitwirkung an einem nicht eigenverantwortlichen oder unfreien Suizid ist hingegen Fremdtötung. Da dieses Thema nicht gesetzlich normiert ist, gibt es zu den Kriterien des Eigenverantwortlichkeitsmangels verschiedene Theorien. Anerkannt ist, dass psychische Defekte, die gemäß § 20 StGB die Unrechtseinsichtsfähigkeit ausschließen, Zwangslagen im Sinne des § 35 StGB, altersbedingte Reifemängel (§ 19 StGB, § 3 JGG), Irrtümer und Nötigungslagen die Eigenverantwortlichkeit ausschließen. Darüber hinaus wird wegen der Ähnlichkeit der Opfersituationen eine Anlehnung an § 216 StGB vorgeschlagen und „eigenverantwortlich“ mit „ernstlich“ gleichgesetzt.[53]
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Totschlag (§ 212 StGB), Mord (§ 211 StGB), Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) sind Lebensverletzungsdelikte. Der objektive Tatbestand dieser Delikte enthält die Erfolgskomponente „Tod“. Mit Eintritt des Todeserfolges ist die Tat vollendet.[54] Bis zu diesem Punkt durchläuft die Vorsatztat die strafbare Versuchszone (§§ 211, 212, 216 i.V.m. § 22 StGB), Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung ist vor dem Erfolgseintritt noch nicht gegeben. Durch freiwillige Abwendung des Todes kann die Versuchsstrafbarkeit gemäß § 24 StGB aufgehoben werden. Das einzige Lebensgefährdungsdelikt im 16. Abschnitt, die Aussetzung (§ 221 StGB), kann schon vor Eintritt eines Todeserfolges vollendet sein. Ausreichend ist eine konkrete Gefährdung des Lebens (näher dazu unten Rn. 61 ff.).[55] Die exakte Bestimmung des Zeitpunktes, ab dem das Opfer nicht mehr lebend, sondern tot ist, hat somit erhebliche strafrechtliche Bedeutung. Abhängig ist dies zunächst von den naturwissenschaftlich relevanten Kriterien. Die Humanmedizin kennt zwei unterschiedliche Todesbegriffe, denen unterschiedliche Todeszeitpunkte korrespondieren: das irreversible Erlöschen der Hirntätigkeit (Hirntod) und der endgültige Stillstand von Kreislauf und Atmung (Herztod). Es ist eine juristische Entscheidung, welcher Todesbegriff dem Strafrecht zugrunde zu legen ist. Da der Gesetzgeber dazu nicht allgemein Stellung genommen hat, ist die Festlegung der Rechtsprechung und dem wissenschaftlichen Diskurs anheimgestellt. Entscheidungsleitend sind dabei die rechtlichen Konsequenzen, die der eine oder der andere Todesbegriff auslöst. Deswegen wird heute das Hirntodkriteriumpräferiert.[56] Mit dem endgültigen und unumkehrbaren Ausfall der gesamten Hirntätigkeit, vor allem des Stammhirns, ist der Mensch tot. Das gilt auch dann, wenn die Funktion von Herz und Kreislauf mit technischen Mitteln noch über diesen Zeitpunkt hinaus aufrechterhalten wird. Damit ist die rechtliche Voraussetzung dafür geschaffen, dass Organ- und Gewebeentnahmen in dieser Phase transplantationsrechtlich den Regeln über die „Entnahme von Organen und Geweben bei toten Spendern“ (§§ 3 ff. TPG) unterfallen, § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG.[57] Das Abschalten des Beatmungsgerätes ist keine Verursachung des Todes, eine Strafbarkeit gemäß §§ 211 ff. StGB kann dadurch nicht mehr begründet werden. Auch besteht nach Eintritt des Hirntodes keine Garantenpflicht zur Aufrechterhaltung von Herz- und Kreislauffunktion unter dem Gesichtspunkt des aktiven Lebensschutzes.
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