m) Mordähnlicher besonders schwerer Fall des Totschlags (§ 212 Abs. 2 StGB)
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Die aktuelle Fassung des § 211 StGB verstößt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht gegen das Grundgesetz. Seit diesem Urteil sind vier Jahrzehnte vergangen und die „Rechtsfolgenlösung“ ist nicht das einzige Indiz dafür, dass das Bundesverfassungsgericht sich geirrt und die Fähigkeit der Rechtsprechung zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots bei der Behandlung vorsätzlicher Tötungen überschätzt hat. Aber die begründeten Bedenken, denen § 211 StGB ausgesetzt ist, sind Petitessen verglichen mit der krassen Abweichung des § 212 Abs. 2 StGB von der Verfassung.[277] Der Rechtsprechung zu erlauben, einen Totschlag mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahnden, weil er ein „besonders schwerer Fall“ ist und sich jeglicher gesetzlicher Konkretisierung der „besonderen Schwere“ zu enthalten, ist schwerstes gesetzgeberisches Versagen.[278] Die mindeste Schadensbegrenzung, die von der Gesetzgebung zu verlangen ist, wäre die Flexibilisierung der Rechtsfolgenseite: „… ist auf lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren zu erkennen“. Der ganz schwere Mangel – die „Unbenanntheit“ des besonders schweren Falles – könnte zwar durch einen Regelbeispielskatalog gemildert werden. Jedoch käme dann sogleich die berechtigte Frage auf, mit welcher sachlichen Berechtigung zwischen Merkmalen, die zwingend zur lebenslangen Freiheitsstrafe führen (§ 211 Abs. 2 StGB), und Merkmalen, die nur eine durch Gesamtwürdigung entkräftbare Indizwirkung haben, unterschieden wird. Die Literatur verschließt die Augen, weil das Bundesverfassungsgericht der Norm sein Attest gegeben hat: „Die Vorschrift ist mit dem Grundgesetz vereinbar“.[279] Wer diesen Standpunkt einnimmt, sollte sich der Aufgabe widmen, der Rechtsprechung das zu geben, was der Gesetzgeber ihr nicht gegeben hat, nämlich einen Katalog subsumtionsfähiger Beispiele der besonderen Schwere.[280]
3. Aussetzung
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Die Strafvorschrift § 221 StGB ist seit 1871 Bestandteil des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs.[281] Die einschneidendste Umgestaltung erfuhr die Norm durch das 6. Strafrechtsreformgesetzvon 1998. Im Grundtatbestand § 221 Abs. 1 StGB wurde der einstmals geschlossene Kreis geschützter potentieller Opfer („eine wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hilflose Person“) geöffnet. Die zweite Handlungsalternative „in hilfloser Lage verlässt“ wurde ersetzt durch „in einer hilflosen Lage im Stich lässt“. Dadurch beendete der Gesetzgeber einen jahrzehntelangen Streit um die Auslegung des Merkmals „verlässt“.[282] Dazu hatte der 1. Strafsenat des BGH im Jahr 1991 entschieden, dass „Verlassen in hilfloser Lage“ eine „örtliche Änderung der Beziehung zwischen dem Obhutspflichtigen und der hilflosen Person“ voraussetze[283], nachdem das Landgericht Ingolstadt als Vorinstanz sich der im Schrifttum vertretenen Ansicht angeschlossen hatte, wonach es für ein Verlassen im Sinne des § 221 Abs. 1 StGB nicht eines räumlichen Sich-Entfernens bedürfe, sondern ein sonstiges Im-Stich-lassen der hilflosen Person genüge.[284] Erheblich verändert wurden die Aussetzungsqualifikationen § 221 Abs. 2, Abs. 3 StGB sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenseite. Unverändert straflos blieb der Versuch der grundtatbestandsmäßigen Aussetzung. Der Streit um die Möglichkeit eines strafbaren erfolgsqualifizierten Aussetzungsversuchs wurde dadurch perpetuiert.[285]
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Die Aussetzung ist ein Delikt, das auf der Ebene des Grundtatbestandes als konkretes Gefährdungsdelikt[286] in zwei Alternativen in Erscheinung tritt: Versetzen des Opfers in eine hilflose Lage (§ 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und Imstichlassen des Opfers in hilfloser Lage (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Der Versuch ist nicht mit Strafe bedroht, vgl. §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB. In Absatz 2 normiert § 221 StGB zwei Qualifikationstatbestände mit Verbrechensqualität (§ 12 Abs. 1 StGB): Tatbegehung durch Vater oder Mutter gegen das eigene Kind bzw. durch einen für Erziehung oder Betreuung zuständigen Beschützergaranten gegen den eigenen Schützling (Nr. 1) sowie Verursachung einer schweren Gesundheitsschädigung des Opfers (Nr. 2). Jedenfalls bei Nr. 1 ist der Versuch strafbar, §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB.[287] Eine weitere (Erfolgs-)Qualifikation mit Verbrechensqualität regelt Absatz 3. Verursacht die Aussetzung den Tod des Opfers, ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei bis 15 Jahren (§ 38 Abs. 2 StGB). Der Versuch dieses erfolgsqualifizierten Delikts ist zweifelsfrei dann strafbar, wenn die Tat zugleich die Voraussetzungen des § 221 Abs. 2 Nr. 1 StGB erfüllt.
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Die Aussetzung gehört zu den „Straftaten gegen das Leben“ (Überschrift 16. Abschnitt), weil sie eine Tat ist, durch die typischerweise ein Mensch in Lebensgefahrgebracht wird. Ausreichend ist allerdings auch die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung. Tatobjekt kann jeder lebende Mensch sein.[288] Die Abgrenzung zwischen nasciturus (§§ 218 ff. StGB) und Mensch richtet sich nach den allgemeinen Kriterien. Eine Tat gegen eine schwangere Frau erfüllt den Tatbestand nur, wenn die Frau selbst in die Gefahr des Todes oder schwerer Gesundheitsschädigung gebracht wird. Eine allein dem ungeborenen Kind drohende Gefahr reicht nicht.[289] Auch die Herbeiführung einer Frühgeburt mit der Folge, dass das geborene Kind in der konkreten Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder des Todes schwebt, vermag den Tatbestand nicht zu erfüllen. Denn die Tatopfertauglichkeit richtet sich nach dem Zustand, in dem sich das künftige Lebewesen befindet, während es erstmalig von den Wirkungen der Tat physisch betroffen ist. Das Opfer braucht keine per se hilflose Person zu sein, obwohl dadurch die Tatbestandsverwirklichung erleichtert wird. Es kommt darauf an, dass das Opfer durch die Tat in eine Lage versetzt wird, in der es hilflos ist. Das ist dann der Fall, wenn es sich nicht selbst aus der konkret gefährlichen Lage befreien bzw. vor der drohenden Gesundheitsschädigung oder dem drohenden Tod schützen kann und fremde Hilfe nicht erreichbar ist.[290] Das Tatbestandsmerkmal „versetzen“ (Nr. 1) ist die Herbeiführung des Hilflosigkeitszustandes. Meistens wird das durch Verbringung des Opfers an einen anderen Ort geschehen.[291] Dabei muss sich das Opfer nicht unbedingt zuvor in einer geborgenen Lage befunden haben. Auch die Verschlimmerung der Situation eines bereits in hilfloser Lage befindlichen Menschen ist tatbestandsmäßig.[292] „Versetzen“ ist auch ohne Ortsveränderung des Opfers möglich, z.B. durch Beseitigung von schutzbereiten Personen (der Täter lockt die Mutter von ihrem im Kinderwagen liegenden Säugling weg) oder gefahrabwendungstauglichen Gegenständen (der Täter entwendet alle lebenswichtigen Medikamente, die der Kranke benötigt).[293] Wer als Garant verpflichtet ist, einen anderen vor der hilflosen Lage zu bewahren, kann das Tatbestandsmerkmal „Versetzen“ dadurch erfüllen, dass er die hilflose Lage nicht verhindert (z.B. die Mutter sieht untätig zu, wie ihre dreijährige Tochter in den dunklen Wald hineinläuft).[294] Schafft oder verschlimmert der Garant die hilflose Lage des Opfers dadurch, dass er sich selbst räumlich entfernt, begeht er ebenfalls Versetzen durch garantenpflichtwidriges Unterlassen, also §§ 221 Abs. 1 Nr. 1, 13 Abs. 1 StGB. Für die 2. Alternative „Im Stich lassen“ bleiben somit nur die Fälle übrig, in denen die – von der konkreten Gesundheits- oder Lebensgefährdung zu unterscheidende[295] – hilflose Lage durch die Untätigkeit des Garanten nicht verschlimmert wird, aber die konkrete Gefahr für Gesundheit oder Leben infolge des Imstichlassens eintritt.[296] Ortsveränderung des Opfers oder des Täters setzt § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht voraus.[297] Die am Krankenbett des schwerkranken Patienten sitzende Krankenschwester begeht Aussetzung, wenn sie die zur Erhaltung des Gesundheitszustandes gebotenen Aktivitäten unterlässt. Taterfolg ist die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder des Todes.[298] Die Verursachung der hilflosen Lage als solcher ist lediglich ein strafloser Versuch, solange sich das Gefährdungspotential der Hilflosigkeit noch nicht zu einer konkreten Gefahrenlage verdichtet hat. „Schwer“ ist eine Gesundheitsschädigung, wenn sie entweder in eine der Schadensklassen des § 226 Abs. 1 StGB eingeordnet werden kann oder einen gleichen Schweregrad aufweist. Da die Gefahr der schweren Gesundheitsschädigung eine Vorstufe der konkreten Todesgefahr ist, kann der Tatbestand dadurch verwirklicht werden, dass ein bereits in der konkreten Gefahr schwerer Gesundheitsschädigung befindlicher Mensch in eine andere Hilflosigkeitssituation versetzt wird, in der ihm konkrete Gefahr noch schwererer Gesundheitsschädigung oder Gefahr des Todes droht.[299] Zwischen tatbestandsmäßiger Handlung, hilfloser Lage und konkreter Gefahr muss ein durchlaufender Kausal- und Zurechnungszusammenhang bestehen.[300] Die Versetzung in hilflose Lage oder das Imstichlassen in hilfloser Lage muss also eine Risikoerhöhung bewirken. Gerät das Opfer in der neuen hilflosen Lage in eine konkrete Lebensgefahr, die ihm in der ursprünglichen geschützten Lage ebenso zugestoßen wäre, ist die Gefährdung nicht objektiv zurechenbar (nach der Evakuierung eines bombardierten Krankenhauses werden die Patienten in eine Behelfsunterkunft gebracht, die von dem Bombardement gleichermaßen betroffen ist). Der Zurechnungszusammenhang kann dadurch unterbrochen werden, dass das Opfer nach vorübergehender Hilflosigkeit in einen Zustand relativer Geborgenheit gerät und erst jetzt eine konkrete Gefahr schwerer Gesundheitsschädigung oder des Todes entsteht. Hilflose Lage und konkrete Gefahr müssen also koinzident sein.
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