Der erste Bus, um zehn Uhr soll er gehen. Um halb elf – der Busfahrer steht neben dem Bus – frage ich dann mal nach, wann denn der Bus nun abfährt. Die Antwort ist: zehn Uhr.Darauf zeige ich dem Fahrer meine Armbanduhr und weise ihn darauf hin, dass es halb elf ist. Er äußert sich erstaunt und gibt dann an: „O passe“.
Das war’s. Was immer das nun bedeuten mag. Ich kann es nicht herausfinden. Also: Warten, warten warten ... um kurz vor elf Uhr fährt der Bus ab. Als ich endlich drin sitze, denke ich über das Glück des Wartens nach, wenn man sich denn darauf einlässt und das tut man in dem Moment, indem man aufhört zu hadern, z. B. mit der Ungeduld und sich einmal umschaut, was um einen herum gerade los ist. Und es ist immer etwas los, meist sind auch Menschen da und Menschen sind immer interessant.
Warten als etwas ganz Eigenständiges, Erfüllendes, ein Geschenk, eine Chance, nicht eine Frustration.
Mir fällt dabei ein Gedicht von Gabriele Stolz ein, zum Scheitern, zum Suchen, zum Finden ohne Fundstück, ohne Ende, die Vielfalt, die es zu entdecken gibt im Unterwegssein.Sie hat es mir für meine Reise geschickt.
An einem schönen Augusttag scheitern
ist wie aus einem unbestimmten Ausland
in eine Heimat zurückkehren.
Nicht wandern in einem Raum, hin und her,
auf Gedankenwegen unterwegs.
Gedankengänge –
ohne einen zu verfolgen,
ohne von der Stelle gekommen zu sein;
das eröffne den Ausweg.
So jedenfalls erzählt es die Geschichte vom Finden.
Aber sie hat keinen zureichenden Grund,
sondern führt nur durch ein Gelände
der Übergänge.
Auch Warten ist für mich jetzt eine Form des Unterwegs-seins.
Viele Monate später hatte ich in Ecuador das erste Mal in meinem Leben den Bus verpasst und ging dann einfach eine Stunde später zum Busbahnhof, in der Hoffnung, dass noch einer an diesem Tage fahren würde. Da war meiner gerade gestartet, ich winkte und auf der Straße hat mich der freundliche Busfahrer wie selbstverständlich aufgelesen. Ich war froh. Ich liebe Südamerika.
El Bolson
El Bolson ist eine kleine Stadt in der Provinz Rio Negro südlich von Bariloche. In den 60er-Jahren wurde sie ein Zufluchtsort für junge Leute, Intellektuelle, die der konservativen Enge der Militärdiktatur entfliehen wollten, um hier, von der Hippiekultur inspiriert einen naturnahen Lebensstil zu pflegen. Diese Hippiekolonie gibt es noch heute und sie ist prägend für die Stadt.
Die Menschen verdienen ihr Geld überwiegend mit Kunsthandwerk. Ihre Produkte, wunderschöner Schmuck zum Beispiel, verkaufen sie auf der wöchentlich stattfindenden Feria Artesanal, einem großen Kunsthandwerksmarkt auf der Plaza, aber auch außerhalb von El Bolson. Dieser Markt ist bekannt und zieht viele Touristen an. Auf ihrer Reise durch Patagonien machen die meisten deswegen einen Stopp in El Bolson.
Ich erlebe hier eine Gemeinschaft junger Familien, die ein bisschen immer noch wie Hippies aussehen und Bio-Landwirtschaft betreiben, einen engen freundschaftlichen Zusammenhalt und liebevollen Umgang miteinander pflegen und dabei nach wie vor sehr kritisch geblieben sind. Mich hat das beeindruckt.
Der Geist des guten Miteinanders ist zu spüren, auch wenn das Leben hier hart ist. Viele sind Selbstversorger.
Es gibt ein Kunst-Café, ein eigenes Kulturzentrum in einem großen, bunt angemalten Gebäude, in dem es auch ein hervorragendes Restaurant gibt, Feria francia, und einen großen gartenähnlichen Platz mit Tischen, Bänken, kleinen Marktständen. Ich habe hier jeden Mittag selbstgemachte vegetarische Speisen und große Salatteller genossen oder im Garten gesessen, gelesen, mich gesonnt und die Familien beobachtet. Sie machen Musik, trommeln und verkaufen ihre Ökoware. Häufig gibt es kreative Programme für die Kinder, Musik oder Malstunden. In einem kleinen Laden kann man selbst gemachte Produkte kaufen, verschiedene Leckereien, Grundnahrungsmittel und selbst gebackenes Brot. Abends treffen sich die Leute hier auf ein Bierchen. Man kann immer draußen sitzen.
Nach ein paar Tagen kennt man sich und ich fühle mich gut aufgenommen. Ich habe zwei Familien durch ihren Alltag begleitet, geholfen bei der Kinderversorgung, auf dem Markt und beim Ernten und ich habe eine intakte Gemeinschaft erlebt. Diese Menschen sind arm, aber sie wirken zufrieden. Auch eine Art zu leben in Argentinien. Diese Hippies sind auch politisch aktiv. Ich habe auch hier, wie in Buenos Aires, einige Demonstrationen beobachtet und bin auch mitgelaufen, für Frauengleichberechtigung.
Sexualstraftäter werden in Argentinien übrigens mit Foto und Personalien an die Häuserwände geprangert.
Ansonsten ist die Stimmung immer irgendwie gut. Backpacker sind willkommen.
Im Hostel habe ich in meinem kleinen Zimmer zuerst einmal das Fenster repariert, mit Stöckchen und Pflaster, damit es sich schließen lässt. Diese Dinge macht man hier am besten selber. Man kann nicht davon ausgehen, wenn man sich über irgendetwas beschwert, dass jemand kommt und es dann wieder funktioniert. Es läuft hier anders, die Menschen denken anders, aber meist sehr freundlich, wenn auch weder logisch noch verständlich noch ökonomisch, allerdings immer wieder überraschend kreativ – egal was es ist.
Meine Freundin Rita hat ein – wie ich finde – so typisches Beispiel von ihrer Reise nach Kolumbien erzählt. Sie hat es Lebenshilfe genannt: „Nach drei Monaten Nicaragua bin ich endlich wieder in der Zivilisation angekommen!!! Bogota! Hier habe ich im Übrigen im Gegensatz zu dem nicaraguanischen Genuschel JEDES Wort verstanden ... Ich wohnte bei einem Freund, ein intelligenter, empathischer junger Mann, Carlos, Dipl. Ingenieur. Er warnte mich, auf keinen Fall das Wasser aus dem Hahn zu trinken!! Muy peligroso!! (sehr gefährlich). Ein paar Tage später, als kein Flaschenwasser mehr da war, wir wohnten im 8. Stock, meinte er, das Leitungswasser sei: muy saludable! Muy muy saludable!!!!(sehr gesund) Ich habe daraus gelernt, dass wir Deutschen uns das Leben schon manchmal unnötig schwer machen! Eine echte Lebenshilfe!“
Das kann man in Südamerika lernen: Widersprüche akzeptieren. Und vor allem muss man sie auch aushalten können.Meine sich wiederholende Erkenntnis in Südamerika: „Es ist wie es ist. Basta.“
Es ist heiß, 34 Grad, aber bei diesem Klima einen Blick auf die schneebedeckten Andengipfel zu haben, – eine filmreife Kulisse. Das Bier, Artesanal, das es in den zwei Brauereien gibt, ist köstlich. Artesanal bedeutet Kunsthandwerk und diese Biere hier sind auch Kunsthandwerk. Es ist möglich, kreativ Bier zu brauen. El Bolson ist bekannt dafür. Es gibt nicht die strengen Regeln wie in Deutschland. Frambuesa, Roja und viele andere Sorten sind unbedingt probierenswert. Oder auch Schwarzbier zur „happy hour“, danach kann man besonders gut schlafen.
Mit dem Essen habe ich mich in Südamerika total umstellen müssen. Als Norddeutsche bin ich gewohnt, um 18 Uhr abends zu essen. Das geht hier alles gar nicht. Vor 20 oder gar 22 Uhr macht in Südamerika kein Restaurant auf. Und überhaupt erwachen die Menschen zum vergnüglichen Leben erst spät abends, einschließlich aller Kinder, auch der ganz kleinen. Es wird dann meistens laut. So manches Mal war Oropax eines meiner wichtigen Reiseutensilien, die ich niemals hätte missen mögen. Meine Hauptmahlzeit habe ich daraufhin auf den Mittag verlegt. Kein Problem, da die Südamerikaner auch mittags üppige Menüs verzehren. Diese Menüs für sehr wenig Geld gibt es überall. Viele Südamerikaner essen auch zum Frühstück Reis, Kartoffeln, Fleisch und Gemüse. Überhaupt essen sie unglaubliche Mengen und viele bringen auch das entsprechende Gewicht auf die Waage.
Meine Tage sind gefüllt mit Wanderungen auf die Berge, zu den Seen, in die Nachbardörfer, zu den Märkten. Ich habe Franziskaner-Gottesdienste im Freien beobachtet und stundenlange Ehrungen und Aufmärsche der Polizei am „Tag der Polizei“. An dem Tag, als das argentinische Fußballspiel Boca gegen River Plate in Madrid stattfindet – man hat es ja wegen massiver gewalttätiger Ausschreitungen der Fans in Buenos Aires kurzerhand nach Madrid verlegt –, gibt es niemanden mehr, der nicht vor dem Fernseher sitzt. Als dann River Plate gewinnt, füllen sich die Straßen rasant mit tausend lärmenden, Fahnen schwenkenden Menschen, diversen Autokorsos, merkwürdigen sonstigen Gefährten und Schrottkisten und sehr vielen schrägen Typen, einschließlich sämtlicher laut bellender Straßenhunde. Ich weiß gar nicht, wo all die Leute herkommen. Bis zum Morgengrauen feiern sie, tanzen, singen und schwenken ihre Fahnen, ziehen immer wieder durch die Stadt.
Читать дальше