Janina und Christian nehmen mich am Wochenende mit auf Ausflüge und zeigen mir die Schönheiten dieser Region. Beim Wandern trifft man überall auf Schilder, die vor dem Puma warnen. Es gibt genaue Verhaltensregeln für den Fall einer Begegnung: 1. nicht weglaufen, 2. anhalten und den Puma anschauen, 3. Kinder auf den Arm nehmen, 4. sich so groß wie möglich machen, 5. schreien, 6. bei einem Angriff des Tieres heftig kämpfen, 7. nicht allein gehen, 8. wegbleiben von toten Tieren. Aber meine Gastgeber sagen, man sieht sie kaum, die scheuen Tiere.
Bei einer Wanderung am nächsten Tag, vorbei an einigen dieser Schilder, nach etwa zwei Stunden, entdecke ich plötzlich frische Puma-Spuren auf dem Weg. Ich bin überzeugt, dass es Puma-Spuren sind. Hier ist niemand, kurze Panik, ich kehre um, laufe schneller.
Ich bin ja sonst nicht ängstlich, aber alleine unterwegs, so seinen Gedanken beim Laufen nachhängend, und ständig diese Warnschilder und wenn man dann diese Spuren sieht, da kann es einen schon mal unerwartet packen. Später muss ich drüber lachen, über meine Reaktion, weil Pumas wirklich sehr scheu sind und Janina kann sich nicht erinnern, dass hier jemals irgendjemand von einem Puma angegriffen wurde.
Abends im Bett denke ich, wenn ich hier sterbe, ist das eigentlich in Ordnung. Ein Traum von Natur, den es auf dieser Welt immer weniger gibt, das wäre ein guter Ort.
Ich mache mir oft Gedanken über den Ort, an dem ich gerne sterben möchte. In meiner Phantasie habe ich ihn auch schon gefunden. Mein Traum ist es, in einem Völkerkundemuseum zu sein, wenn es soweit ist. Ich habe das Bild, dass ich in einem Bett liege, inmitten von gedämpft beleuchteten Ritualgegenständen und Figuren, aus Kulturen ursprünglicher Völker. Ich habe im Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln einmal so eine Ausstellung gesehen, da haben sie auf Sockeln Ritualfiguren aus verschiedenen Kulturen in einem Raum gezeigt. Diese Atmosphäre hat mir eine solche Geborgenheit und so ein Glücksgefühl beschert, dass ich dieses Bild nicht mehr loswerde. Da möchte ich sterben einmal. Das habe ich auch schon meinen Freunden erzählt, aber wahrscheinlich wäre so etwas in der Realität verboten.
Warum eigentlich? Wenn es der letzte Wille ist?
Aber das ist wohl eine verrückte Idee für manchen. Also das hat etwas mit meiner Suche nach Ursprünglichkeit zu tun, was immer das auch ist. Entweder in einem Völkerkundemuseum, umringt von Ritualfiguren oder in einer solchen Natur. In beidem hätte ich das Gefühl, ich werde als Teil eines Ganzen aufgenommen.
Ich fühle mich wie bei Freunden. Janina sieht man immer mit einem Becher Mate-Tee schon früh morgens. Frühstück braucht sie nicht, nur Mate, sagt sie.
Mate ist sehr speziell. Mate trinken ist ein soziales Ritual. Der Matestrauch wächst in Südamerika. Die kleingeschnittenen Blätter werden in ausgehöhlten Kalebassen mit heißem Wasser immer wieder aufgegossen. Deshalb tragen Mate-Trinker immer eine Thermosflasche mit heißem Wasser bei sich. Das gehört zur Ausrüstung wie die Kalebasse und die Bombilla, ein Metalltrinkrohr mit Sieb vorne, durch das der Mate geschlürft wird. Dann wird wieder Wasser nachgegossen und die Kalebasse wird wie eine Friedenspfeife weitergereicht. Das ist ein wichtiger sozialer Aspekt dieses Rituals. Mir scheint es wie ein Suchtmittel, obwohl sie das weit von sich weisen, aber bei manchen Menschen geht es nicht ohne den Becher, den Trinkhalm und die Thermosflasche.
Wenn wir in Europa Kaffee, Nikotin und Alkohol konsumieren, was sie hier viel weniger tun, dann trinken sie hier Mate. Janina bestätigt, dass Mate sie fit macht und den Hunger hemmt.
Viele Argentinier sind sehr dick und essen viel Fett und Zucker. Die, die abnehmen wollen, regeln das oft mit Mate, sagt Janina.
Ich habe Mate gekostet und finde ihn grässlich bitter. MateTrinker findet man am meisten in Uruguay, Paraguay, Argentinien, aber auch in Brasilien. Schon die Ureinwohner haben das getrunken.
Janina ist Lehrerin und erzählt, dass das Hauptproblem für viele Kinder sexueller Missbrauch ist. Das ist sehr häufig in Zentral- und Südamerika und eben auch in Argentinien. Das Bewusstsein eines Verbrechens ist bei vielen Menschen nicht vorhanden und die fatalen Folgen für die Kinder auch nicht. Die Aufklärung darüber fehlt in der öffentlichen Diskussion, auch bei den Indigenen. Für viele ist das normal. Sie würden es auch nicht Missbrauch nennen.
Ist das eine kulturelle Frage? Kann etwas schlimm sein, wenn es in einer Kultur normal ist? Wenn es für uns eine Horrorvorstellung ist, aber in einer anderen Kultur dazugehört?
Was ist schlimm? Frage ich mich. Für jeden etwas anderes? Eine Frage der unterschiedlichen Traditionen? Die Frage reicht vom sexuellen Missbrauch bis zum Meerschweinchen essen.
Die kleinen Straßen am See sind gesäumt von blühendem gelben Ginster. Diese Farbe vor dem Hintergrund der schneebedeckten Berge und tiefblauen Seen, das ist wie ein Gemälde.
Man kann hier tagelang wandern. Einmal verlaufe ich mich. Vereinzelt gibt es am See teure Wochenendhäuser. Nach vier Stunden finde ich den Weg nicht zurück. Ich habe kein Googlemap und werde mich auch wider alle Ratschläge bis zum Ende der Reise dem verweigern. Ich habe die Traveller gesehen, die in ihr Gerät starren und niemals jemanden nach dem Weg fragen. Ich habe so viel Freundlichkeit, Information und Kontakte erfahren durch das Ansprechen von Menschen, durch das Fragen nach dem Weg, das möchte ich niemals missen.
Abgesehen davon habe ich das Smartphone meist im Hotel, damit es nicht geklaut wird. Das ist sicher nicht klug, denn wenn mir etwas passiert – und ich bin ja meist allein unterwegs, wäre es eine Hilfe, aber ich kann mich nicht daran gewöhnen. Ich will es nicht und immer kann man auch nicht vernünftig sein. Wo es Menschen gibt auf der Welt, da kann man fragen.
Also klopfe ich an einem dieser Wochenendhäuser an und frage nach dem Weg. Da ich natürlich auch die genaue Adresse meiner Unterkunft nicht dabei habe, wird es ein längeres Gespräch mit dem freundlichen Besitzer – nur der Hund ist nicht so freundlich, er scheint gar fremdenfeindlich zu sein, – wird aber gut im Zaum gehalten.
Ich finde dann zurück – obwohl mich unterwegs nochmals Zweifel packen über die Richtung und es dauert noch einmal vier Stunden. Ich bin ein großer Verläufer – Orientierung schwer mangelhaft. Aber bislang bin ich trotzdem noch überall hingekommen. Leichte und schwere Frustrationszustände eingeschlossen. Dann bin ich fix und fertig, aber es war trotzdem ein wunderschöner Tag. Als Souvenir habe ich einen kleinen Sonnenbrand im Gesicht mitgebracht, trotz 50-prozentigem Sonnenschutz. Die Sonne ist hier ganz anders als bei uns.
Mit einer Tour fahre ich nach San Martin de los Andes. Das Städtchen liegt am Lago Lacar und ist bekannt für Fischen, Wandern, Kanu- und Skifahren. Hübsch, aber mir zu touristisch.
Die Straße von Villa la Angostura nach San Martin de los Andes nennt sich die Route der sieben Seen, eine der schönsten Straßen in Patagonien. Sie führt an sieben Seen vorbei. An jedem machen wir eine ausgedehnte Pause.
Man sieht hier viele Fahrradfahrer, Reisende, die sich schnaufend mit dem gesamten Gepäck die Anden hochquälen und immer einen, wie ich finde, leidenden Gesichtsausdruck haben. Aber sie scheinen es zu lieben. Jedes Mal wenn der Bus einen überholt, frage ich mich, warum machen sie das. Und bei den Straßen hier und wie die Busse manchmal fahren, finde ich es total gefährlich, aber das ist nur meine Sichtweise.
Von Villa la Angostura geht es mit dem Bus nach El Bolson weiter.
Ich bin ein pünktlicher und zuverlässiger Mensch. Diese Eigenschaften kann man gleich mal total vergessen in Südamerika. Da sind sie eher peinlich. Sie weisen einen im Übrigen auch immer als Deutschen aus. Und man kommt damit nirgends weiter und rutscht von einer Blamage in die andere. Obgleich die Südamerikaner die Deutschen wegen ihrer Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit und ihrer strengen Regeln bewundern, wie sie mir oft bestätigt haben, und dass sie deshalb auch gerne in Deutschland leben würden. Dass sie sich selbst entsprechend verändern können, glaube ich nicht, weil sie so eben nicht sind. Das ist ein Teil ihrer Kultur.
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