Beinahe derselbe Geruch hatte ihn schon in seiner Kindheit umgeben. Dieser bestimmte Nadelbaumgeruch war in Ost-Washington anders, doch die Düfte waren sich ähnlich. Es erinnerte ihn jedoch daran, wie er als Welpe durch den Wald gelaufen war, sich in Blättern und Gras gewälzt und mit den anderen Welpen in seinem Rudel gespielt hatte.
Er schüttelte diese Gedanken ab und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Wolf. Für eine Weile musste er die komplizierte Situation vergessen. Nachdem Quincy angerufen hatte, um ihn wissen zu lassen, dass er okay war, und vorgeschlagen hatte, seinen Wolf ein wenig rauszulassen, hatte Miles erkannt, dass sein Gefährte recht hatte. Es war viel zu lange her gewesen, dass Miles sich außerhalb des Vollmonds verwandelt hatte. Auch wenn das nicht gleich bedeutete, dass er auf Hausschuhen herumkauen würde, musste er seinen Wolf öfter mal rauslassen.
Mit einem weiteren tiefen Atemzug lockerte er die Dominanz über seinen Wolf und übergab ihm die Kontrolle. Wie immer genoss er die Verwandlung, die für sie so natürlich wie das Atmen war, und binnen Sekunden betrachtete er die Welt aus einem gänzlich anderen Blickwinkel.
Er schüttelte sich kräftig, während er sich daran gewöhnte, wieder in seinem Fell zu sein, dann hob er die Schnauze und schnüffelte. Als er die Fährte eines Hasen entdeckte, rannte er los, ohne noch einmal darüber nachzudenken.
Es entbrannte eine richtige Verfolgungsjagd, durch die Miles daran erinnert wurde, wie lange er schon nicht mehr hier draußen gewesen war. Statt auf dem Rudelgebiet hatte er sogar ein paar Vollmonde eingeschlossen in seinem Apartment verbracht, weil er so viel gearbeitet hatte. Er rannte noch etwas schneller und schließlich gelang es ihm, den Hasen zu fangen. Sein Wolf genoss die Jagd und ging im Töten auf.
Das war eine wirklich widersprüchliche Seite an ihm. Sein Wolf konnte ein Killer sein – und war es auch. Er verfolgte, jagte, erlegte und hatte in dieser Hinsicht keine Skrupel. Doch die menschliche Seite an ihm war Mediziner und von ihm verursachte Gewalt und Tötung hätte ihm zutiefst widerstrebt, wenn seine menschliche Seite im Augenblick mehr Kontrolle gehabt hätte.
Als er aufgegessen hatte, putzte er sich und trank ausgiebig von dem kühlen Bergwasser. Anschließend rannte er um die Bäume herum und durch das Unterholz, sprang über Baumstämme und Bäche, rannte immer schneller und fühlte einfach nur die Freiheit des Winds in seinem Fell.
Er hatte sich diese Freiheit viel zu lange verwehrt. Es war verständlich; er war mit einem gewissen Tunnelblick auf Quincy fokussiert gewesen. Doch er musste sich daran erinnern, wie gut es sich anfühlte, zu rennen, wie sehr er es brauchte, um einen klaren Kopf zu bekommen und so viele seiner Gedanken loszulassen.
Miles fand seinen Lieblingshügel und legte sich hin, sodass er den Wald überblicken konnte. Pittsburghs Lichter waren in der Ferne zu erkennen und erleuchteten den Himmel. Der Hügel hatte die perfekte Höhe und Ausrichtung, um zur Stadt schauen zu können.
Irgendwo dort draußen war sein Gefährte. Quincy hatte ihm von seinem Hotel aus geschrieben, dass er im Moment sicher war und gerade eine neue Bleibe suchte, bevor er weitere Schritte unternahm. Er wollte Miles nicht sagen, wohin er ging, zweifellos für den Fall, dass ihre Unterhaltungen abgehört wurden. Quincy konnte einiges unternehmen, um sich vor anderen zu verstecken, doch der Umstand, dass er im Krankenhaus gewesen war, bewies wohl, dass er nicht alles schaffte.
Miles versuchte, den Schmerz nicht die Überhand gewinnen zu lassen, doch sein Wolf vermisste ihren Gefährten genauso sehr wie er. Sie wussten beide, dass neben ihnen jetzt ein nachtschwarzer Jaguar mit zuckendem Schwanz sitzen sollte. Stattdessen war dieser Merkur wusste wo und tat Diana wusste was für Dinge.
Miles war dankbar, dass er Quincy gefunden hatte. Er war sich nicht sicher gewesen, was für einen Gefährten – ob männlich oder weiblich – er finden würde, doch er hatte nie erwartet, dass dieser einer anderen Spezies angehörte. Doch wie er Quincy gesagt hatte, vertraute er darauf, dass die Götter wussten, was sie taten. Er erschauderte beim Gedanken daran, was vielleicht passiert wäre, wenn sich sein Leben in jungen Jahren anders entwickelt hätte.
Er hatte seine sexuellen Vorlieben von klein auf gekannt. Er war verwirrt gewesen – da gab es keinen Zweifel –, denn er hatte verstanden, dass er schwul oder hetero sein konnte, doch er mochte beide Geschlechter, was ihn für eine Weile frustriert hatte. Als er es in der Highschool schließlich verstanden hatte, hatte er das getan, was er darüber gelesen hatte, was viele bisexuelle Menschen taten: Er hatte einen Teil von sich versteckt. Seine Vorliebe für Männer nicht zugegeben, sondern sie eisern für sich behalten.
Doch als ein paar andere Kerle in seinem Rudel sich als schwul geoutet hatten und seine Eltern deswegen nicht durchgedreht waren, hatte er dies als gutes Zeichen gesehen. Dennoch war er noch nicht bereit gewesen, sich zu offenbaren.
Bis er Jacob kennengelernt hatte.
Bei der Erinnerung daran schnaubte Miles, denn ihm wurde bewusst, dass Jacob und Quincy einige optische Ähnlichkeiten aufwiesen. Groß, schlank, sehnig, langes, schwarzes Haar und helle Haut. Er war von diesem Menschen fasziniert gewesen. Jacob war gerade erst aus einer kleinen Stadt in der Coleville-National-Forest-Region in ihr Gebiet gezogen und er und Miles waren in der Schule schnell Freunde geworden. Miles hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass Jacob schwul war. Er hatte keine Ahnung gehabt, wie er damit umgehen sollte, dass Jacob ein Mensch war, doch er hatte angenommen, dass dafür noch Zeit wäre.
Als ihr letztes Jahr an der Highschool dem Ende zugegangen war und Miles, statt des netten weiblichen Wolfs, den seine Eltern für ihn ausgesucht hatten, Jacob zum Abschlussball hatte ausführen wollen, war jedoch die Hölle losgebrochen. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass es bei anderen Männern okay gewesen war, schwul zu sein, aber bei ihrem Sohn nicht. Miles hatte seine Eltern noch nie derart erlebt.
Tagelang hatten sie ihn angeschrien. Jedes Mal, wenn er aufgetaucht war, hatte sein Vater wieder damit angefangen, ihn zu schikanieren. Meistens war es darum gegangen, dass er diesen schwulen Scheiß vergessen und ein nettes Mädel finden sollte, und oft genug hatte sein Vater geschrien: »Mein Sohn nicht!«. An diesem Punkt hatte Miles meistens nicht mehr zugehört.
Schließlich hatte er gelernt, für sich selbst zu sein. Er war gekommen und gegangen, wenn sein Vater nicht zu Hause oder im Bett gewesen war. Er hatte nebenbei für das Rudel gearbeitet, sodass er sogar einen Teil seines Geldes dafür ausgegeben hatte, um auswärts zu essen. Als die Gefährtin des Beta erkannt hatte, dass er am vierten Tag in Folge im Diner gegessen hatte, hatte sie versucht, mit ihm zu sprechen, doch Miles war noch nicht bereit gewesen, ihnen zu erzählen, was vor sich gegangen war.
Natürlich hatte Jeannie sich um ihr Rudel gekümmert und gewusst, dass etwas nicht stimmte. Daher war sie zum Alpha gegangen, der Miles am Tag darauf im Diner abgefangen hatte. Wenn Miles jemals ein Alpha hätte sein wollen, dann einer wie Karl Phillips. In all den Jahren, die Miles ihn gekannt hatte, hatte Karl seine Stimme nicht ein einziges Mal erhoben und seine Stärke als Alpha nur weniger als ein Dutzend Male eingesetzt.
Karl hatte ihm im Diner gegenübergesessen und Jeannie hatte ihnen Kaffee gebracht. »Wie wäre es, wenn wir zusammen einen Happen essen?«
Er mochte gefragt haben, doch Miles hatte es besser gewusst, als den Alpha durch eine Ablehnung zu verärgern. »Sicher, Alpha«, hatte Miles gesagt, als er sichergestellt hatte, dass sich in diesem Teil des Lokals keine Menschen aufhielten.
Mit einem Lächeln hatte Karl den Zucker genommen und einen Löffel voll davon in seinen Kaffee rieseln lassen und umgerührt. Miles hatte sich auf seine eigene Tasse konzentriert, während er langsam seinen Kaffee getrunken hatte, denn er hatte gewusst, dass Karl sprechen würde, wenn er so weit war.
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