Dort, sagte er. In ungefähr fünfzig Metern. Er räusperte sich. Fünf. Vier. Drei.
Obwohl es stockdunkel war, schloss Sofie die Augen. Sie holte Luft und versuchte, die Bäume trotz des Tempos des Transporters zu fühlen. Vergeblich. Oder? Sie spürte etwas, ein schwaches Schimmern, knapp außerhalb ihrer Reichweite.
Vielleicht wollte sie es auch nur spüren.
Zwei, sagte Gurke. Eins.
Sofie bündelte ihre Magie und griff nach der Stelle, an der sie das Schimmern gespürt hatte. So sanft es ging, lenkte sie ihre Magie hinein. Plötzlich spürte sie die Bäume. Fühlte das Leben in ihnen.
Ganz sanft, dachte sie und ließ die Äste wachsen, bis sie sich vor dem Transporter neigten. Bremsen kreischten. Sofies Kopf knallte gegen die Wand. Sie hörten gedämpftes Fluchen von vorne.
Schmerzen fuhren in ihren Hinterkopf. Trotzdem ließ sie den Magiefluss nicht abreißen. Vorsichtig lenkte sie die Äste über den Transporter und wickelte sie um die ganze Form. Nur nicht um die Hintertür. Aus der wollten sie schließlich entkommen.
Zeit für ein paar magische Klimmzüge.
Sie stöhnte leise, als die Äste den Transporter in die Luft hoben. Spürte, wie sie abhoben. Der Transporter drehte sich und ihre Freunde und sie purzelten durcheinander. Ein Knie bohrte sich in ihren Bauch. Jemand stöhnte schmerzerfüllt. So, wie es sich anfühlte, hing der Transporter nun mit der Nase voran über der Straße.
Sie durfte die Konzentration nicht abreißen lassen. Tief einatmend lenkte sie die Zweige und schaffte es, winzige Triebe in den Spalt zwischen den Hintertüren zu dirigieren. Triebe, die zu ausgewachsenen Zweigen wurden. Das Schloss knackte. Die Türen wurden aufgerissen. Frische Luft drang in den Innenraum. Über ihnen hing die bleiche Morgensonne.
»Super.« Nat strahlte und beeilte sich, tiefer in den Schatten zu treten. »Kommt schnell her, dann kann ich eure Fesseln durchbeißen.« Seine spitzen Eckzähne blitzten.
Sofie rappelte sich auf und hielt ihm ihre Hände hin.
»Nicht bewegen«, warnte er. Wohl, weil er ihre Haut nicht ritzen durfte. Der Geschmack von Blut würde ihn zur reißenden Bestie machen.
Sofie hielt sehr still. Sie spürte seinen Atem auf ihren Handgelenken, dann ein Ziehen. Der Kabelbinder schnappte auf. Während Nat Vivi befreite, orientierte sie sich. Das Innere des Transporters war grau und sehr sauber. Entweder ein Mietwagen oder ihre Entführer säuberten den Wagen nach jedem Einsatz, damit keine Spuren zurückblieben.
Der einzige Ausweg war oben. Nach wenigen Anläufen schaffte sie es, die Kante der Öffnung zu packen und sich draußen umzusehen. Blätterrascheln begrüßte sie. Und Gurke, der keuchte wie ein alter Mops.
Na, war das sanft?, fragte sie triumphierend.
Aus deinem Hinterkopf wächst eine Beule von den Ausmaßen eines Kürbisses.
Könnte schlimmer sein, sagte sie, obwohl es sich auch so anfühlte, als hätte sie eine Kürbisbeule. Wer ist vorne im Transporter? Hab ich ihn ordentlich eingewickelt oder kommt er da raus …
Rascheln. Ein Kopf erschien im Blättergewirr: der männliche Incubus. Kacke. Sofie hob die Hände, genau in dem Moment, in dem er lächelte.
»Ruhig«, sagte er und sie fragte sich, warum sie versucht hatte, einen Zweig um seinen Hals zu wickeln. So einen schönen Mann durfte man doch nicht erwürgen!
»Okay«, sagte sie und kicherte.
»Und ihr anderen … ah!«
Gurke war in das Gesicht des wunderschönen Mannes geflogen.
»Gurke!«, rief Sofie und packte ihn an den Schwanzfedern. »Lass das!«
Weg mit den Griffeln, törichte Metze!, rief er und zappelte. Sie hielt ihn nur noch fester. Ich versuche, deinen Allerwertesten zu retten!
»Meinem Allerwertesten geht es super! Lass den Mann in Ruhe! Ich liebe ihn.«
Du kennst nicht mal seinen Namen!
»Natürlich kenne ich … äh. Wie heißt du noch mal, Bärchen?«
»Erotikus von Feinstein«, sagte er und seine Stimme war so rau und sexy, als wäre er gerade erst aufgestanden.
Lass mich los und ich hacke diesem Erotikus die Halsschlagader durch!, rief Gurke. Niemand, der einen derart grauenvollen Namen hat, sollte lebend herumspazieren!
Also echt. Sofie wickelte Gurke in einen Pappelzweig ein. »Klappe«, sagte sie und sah Erotikus bewundernd an. »Hör nicht auf ihn. Er ist nur neidisch, weil er Gurke heißt.«
»Wer?« Der Incubus wirkte verwirrt. Es stand ihm ausgezeichnet. Total süß. »Egal. Ihr anderen da unten. Ich liebe euch. Kommt zu mir.« Ein Schweißtropfen rann über seine Stirn.
Es fällt ihm schwer, euch gleichzeitig zu kontrollieren, dachte Gurke. Er ist stark, aber er ist nichts gegen seinen Meister.
Er ist alles, dachte Sofie. Für mich.
Gurke würgte.
Nat kletterte neben ihr aus dem Transporter und schwang sich auf einen Ast. Er hatte sich die Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht gezogen und trug Lederhandschuhe. Wo hatte er die her? Liebevoll starrte er Erotikus an.
»Du bist so hübsch«, säuselte Nat.
»Ja, echt«, kam Vivis Stimme aus dem Inneren des Transporters. »Schatz, magst du mir heraushelfen?«
»Immer, Liebste.« Erotikus reichte ihr die Hand. Nat und Sofie schauten bewundernd zu, wie er die Meerjungfrau in seine starken Arme zog. Sie lächelte, aber es wirkte etwas gequält.
»Danke, äh, Süßer«, stotterte sie.
»Küss mich, meine … au!« Vivis Faust landete auf seiner Nase. Blut quoll hervor. »Aua! Was soll das?«
»Mist!«, rief die Meerjungfrau. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. »Ich hab doch auf dein Kinn gezielt, du …«
Sie biss die Zähne aufeinander und schlug erneut zu. Diesmal traf sie das Kinn. Erotikus schwankte leicht. Dann krallte er sich in einem Ast fest und holte mit dem Kopf aus. Seine Stirn knallte auf Vivis. Die taumelte zurück und fiel in das Innere des Transporters. Es krachte.
»Arschloch«, flüsterte Sofie. Sie bewegte einen Finger und dünne Pappelranken umwickelten den Incubus. Er zappelte und wandte den Kopf.
»He, Süße, was …«, begann er, aber plötzlich erschien Nat hinter ihm und stopfte ihm etwas in den Mund, das sich bei genauerem Hinsehen als mehrere gebrauchte Taschentücher entpuppte.
»Gut, dass ich die noch dabei hatte«, keuchte er. »Vivi! Ist alles in Ordnung?«
Aus dem Inneren des Transporters kam gequältes Stöhnen. »Nein. Warum ist er nicht umgekippt, als ich ihn gehauen habe? Bei euch sieht das immer so leicht aus.«
»Oh, du musst den Knockout-Punkt treffen, sonst funktioniert das nicht.« Nat streckte die Hand aus und half ihr hinaus. Auf Vivis Stirn wuchs eine fette Beule.
»Ich werde nie zu einer richtigen Kämpferin«, seufzte sie.
»Ganz im Gegenteil, das war großartig.« Nat strahlte. »Danke, dass du uns gerettet hast. Ohne dich hätte seine Aufmerksamkeit nicht so lange nachgelassen, dass wir ihn erwischen konnten.«
Vivi rieb sich die Stirn.
»Unsere Zusammenarbeit ist heute auf einem neuen Level.« Glücklich sah Nat sich um. »Hat jemand eine Anti-Sonnen-Maske dabei?«
»Leider nein.« Sofie befreite Gurke, der sie vorwurfsvoll anstarrte.
Ich konnte nichts dafür, sagte sie. Sorry.
Ich weiß, gurrte er. Aber das macht es nicht angenehmer, dich als verliebtes Häschen zu erleben.
Sie schauderte. Langsam reicht’s mir mit den Incubussen … Incubi. Wenn ich heute noch einen einzigen …
Seid ihr nicht auf der Jagd nach Aeron von Thrane?
Äh, richtig. Sie überlegte. Wir sollten uns vorbereiten.
Wie das?
Wir dürfen ihn weder sehen noch hören.
Das wird das Kämpfen nicht einfacher machen.
General Stein hat mir verraten, wie man das macht. Sie räusperte sich. Aber erst mal müssen wir herausfinden, wo der Kerl mit uns hin wollte. Sie betrachtete den geknebelten Incubus. Der zwinkerte ihr zu. Sie kämpfte den Drang nieder, lüstern zu seufzen, und trat ihm stattdessen vor das Schienbein.
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