Jean dachte an seine Mutter. Er dachte an Nat, der sicher verborgen war. Noch. Er hasste es, denken zu müssen. Sich entscheiden zu müssen, und dieser Hass führte ihn zu einem Gefühl, mit dem er umgehen konnte: Wut.
»Süße«, knurrte er. »Versuch nicht, mich mit deinen popeligen Kräften zu lenken. Ich könnte dich dazu bringen, aus dem Fenster zu hüpfen, wenn ich Lust dazu hätte.«
Sie wirkte leicht irritiert. »Nicht schlecht. Aber denk daran, dass wir deine Mutter haben.«
»Daran denk ich gerade.« Er ballte die Fäuste. »Haut ab oder ich schlag euch zu Brei.«
»Komm her«, sagte der zweite Incubus, ebenfalls lächelnd. Nicht zu ihm. »Schlag ihn K. O.«
Jean fuhr herum. Ballte die Fäuste, bereit, als Erster zuzuschlagen. Sah Nats Faust auf sich zurasen. Sah die hellen Locken und die schief sitzende Brille und schaffte es nicht, die Hände zu heben. Schmerz explodierte in seinem Kinn. Der Raum drehte sich und dann sah er die Decke hinter tausend blitzenden Lichtern und dann … nichts mehr.
Es war dunkel im Transporter und der Teppichboden scheuerte über Sofies Wange. Es stank nach Benzin. Sie konnte ihre Freunde nicht sehen und alles, was sie hörte, war das Dröhnen des Motors. Aber sie spürte einen Körper neben sich, tröstlich warm. Einen Körper, der in jeder Kurve gegen sie geschleudert wurde. Mit gefesselten Händen konnte sie sich nicht abstützen und so knallte ihre Schläfe gegen das Metall der Seitenwand.
»Au!«, rief sie. »Scheiße!«
»Sofie?«, fragte eine sanfte Stimme. Nat. Sie kam von weiter weg, also war nicht er es, der neben ihr lag. »Sofie, geht es dir gut?«
»Nein«, sagte sie. Erneut fuhr der Transporter um eine Kurve. Diesmal krachte sie mit der Schulter gegen die Seitenwand. »Aua! Nein, mir geht es nicht gut. Ich bin stinkwütend.«
»Gut.« Er klang unsicher. »Vivi?«
»Ja.« Sie war es also, die neben Sofie lag.
»Jean?« Keine Antwort. »Jean?«
»Neben mir ist er nicht«, sagte Sofie.
»Hier auch nicht«, flüsterte Vivi.
»Hier auch nicht.« Nat klang, als hätte er Schmerzen. »Ich habe ihn geschlagen.«
»Hab ich gesehen«, sagte Sofie. Sie seufzte. »Verdammte Incubusse und ihre ekligen Tricks. Ich meine … also. Der Incubus, der uns aus der Wohnung geholt hat, war ein Arschloch. Im Allgemeinen sind Incubusse total okay.«
»Incubi«, korrigierte Vivi. »Was ist passiert? Was haben sie mit uns vor?«
Die beiden Arschgeigen an der Tür hatten sie aus ihren Verstecken geholt, beziehungsweise höflich darum gebeten, und sie waren ihnen gefolgt wie Schafe. Kein Wunder, dass Leute sich vor denen fürchteten. Sofie hatte bisher vor allem Erfahrungen mit der Bezauberung durch Aeron von Thrane gemacht und das war gruselig genug. Zu denken, dass noch mehr Wesen mit diesen Kräften herumliefen, war zu entsetzlich, um darüber nachzudenken.
Und andererseits … hatten die meisten Leute die Kraft, anderen Leuten wehzutun. Wenn sie es wollten.
»Aeron hat Jean angerufen«, sagte Nat. Er klang immer noch, als würde er an schlechtem Gewissen sterben. »Er hat seine Mutter entführt.«
Sofie sog scharf die Luft ein. So ein Mist.
»Er … er will Jean wohl sehen«, sagte Nat.
»Warum?«, fragte Sofie. »Ich meine, er hat bis jetzt kein besonderes Interesse an ihm gezeigt. Weiß er überhaupt, dass Jean sein Sohn ist?«
Gut, dass Jean nicht hier war. Er hasste es, als Aerons Sohn bezeichnet zu werden.
»Ich weiß nicht«, sagte Nat. »Meint ihr, Jean ist sauer? Ich habe ihn ausgeknockt und … ich hoffe, es hat nicht allzu weh getan.«
»Das hält er schon aus«, sagte Sofie. »Wo immer er ist.« Sie überlegte und versuchte, ihre Sorge herunterzuschlucken. »Vielleicht vorne? Ich … Okay, alles der Reihe nach. Wir müssen erst mal hier raus. Dann können wir Jean retten. Hat jemand einen Plan?«
»Hast du Pflanzensamen bei dir?«, fragte Nat.
»Ja, natürlich.« Sofie zögerte einen Moment. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was eben geschehen war. Nun, da die Verzauberung gelöst war, verschwammen die Erinnerungen. »Scheiße. Ich glaube, sie haben sie mir abgenommen.«
Sie wälzte sich hin und her und versuchte, zu erspüren, ob die Zuckererbsenschoten in ihrer Hosentasche noch da waren. Nichts. Sie suchte sie mit Magie und fand ebenfalls nichts. Sie erinnerte sich, dass die Schwarzhaarige sie abgetastet hatte. Die Brombeeren hatte sie leider in ihrer Jacke, und die hing noch in Nats und Vivis Wohnung. Sie versuchte, Pflanzen außerhalb des Transporters zu fühlen, aber es klappte nicht. Vermutlich fuhr der Wagen zu schnell.
»Nein«, sagte sie. »Alles weg.« Ein Gedanke kam ihr. »Wo ist Gurke? Haben sie ihn auch verzaubert?«
Sie rief in Gedanken nach ihm, bekam aber keine Antwort. Mist. Was ging heute eigentlich noch schief?
Sie lachte trocken. »Und General Stein hat uns befohlen, uns auszuruhen. Der wird uns morgen nie am Einsatz teilnehmen lassen.«
»Wenn wir morgen noch leben.« Vivi wälzte sich hin und her. Ihre Schulter bohrte sich in Sofies Oberarm. »Nichts zu machen. Mit was haben sie uns gefesselt? Kabelbinder?«
»Fühlt sich so an.« Nat klang nachdenklich. »Wo sie uns wohl hinbringen? Ob sie, nun, noch Rohmaterial für das Ritual brauchen? Oder ob Aeron uns dabeihaben will, wenn er Jean trifft?«
»Meinst du echt, er will Jeans Freunde kennenlernen?«, fragte Sofie, bevor sie kapierte. »Stimmt, er könnte uns gegen Jean einsetzen. Scheiße.«
Eine Vision zuckte durch ihr Hirn: Nat, von Aeron beeinflusst, köpfte Jean. Oh nein. Jean hatte sich vorhin nicht gegen Nat gewehrt. Natürlich nicht. Wie sollte er gegen seinen Freund, oder was immer Nat für ihn war, kämpfen?
»Was seid ihr eigentlich füreinander?«, fragte sie, bevor sie sich stoppen konnte. »Jean und du. Seid ihr zusammen oder …«
»Ich weiß nicht«, sagte Nat. »Ich habe … also … von meiner Seite aus …«
Du liegst gefesselt in einem von Feinden gesteuerten Gefährt und alles, was dich interessiert, ist das Liebesleben deiner Kollegen? Deine Arbeitsmoral ist miserabel, Metze.
Gurke! Sofie wollte sich aufrichten, aber die Fesseln und eine weitere Kurve hielten sie auf. Da bist du ja!
Gerade so. Er klang angestrengt. Ich folge dem Gefährt, aber ich muss zugeben, dass ich Schwierigkeiten habe, mitzuhalten.
Sie überlegte, ihm mehr Flugstunden und weniger Schlemmerstunden im Müllcontainer des ‚Vier Jahreszeiten‘ vorzuschlagen. Aber sie war zu froh, seine Stimme zu hören.
Wo sind wir?, fragte sie. Wohin fahren wir?
Ihr folgt der Lebkuchenallee in Richtung Rotkäppchen-Park.
Mist, dachte Sofie. Das sagt mir gar nichts.
Nun, in der Nähe liegen ein Fußballstadion, ein Klärwerk und ein äußerst tristes Industriegebiet, meinte Gurke. Seine Stimme wurde leiser. Er musste zurückfallen. Sie hatten nicht viel Zeit. Vielleicht wollen sie euch in der Klärgrube versenken.
Genau der Heldentod, den ich mir gewünscht habe, dachte Sofie. Gurke, gibt es Bäume am Straßenrand?
Da kommen ein paar mickrige Pappeln.
Super. Zähl runter, bis wir fast vor ihnen sind.
Was hast du … Das ist gefährlich, Metze. Ihr seid nicht mal angeschnallt.
Ich habe vor, das ganz sanft zu machen.
Es war schön, dich gekannt zu haben, Sofie.
Zähl. Ich zeig dir schon, wie behutsam ich diese Karre stoppe.
Skeptisches Schweigen.
»Macht euch bereit«, sagte Sofie. »Ich halte die Kiste gleich an.«
»Wunderbar.« Sie hörte Nats Lächeln in seiner Stimme und spürte, wie Vivi sich neben ihr anspannte. Dann lauschte sie auf Gurke.
Читать дальше