Ein Beispiel für kulturelle Nachhaltigkeit aus dem literarischen Bereich liefert die kanadische Autorin Margaret Atwood mit ihrer MaddAddam -Romantrilogie (2003, 2009, 2013). Letztere lotet mögliche zukünftige Lebensbedingungen in einer zerstörten Umwelt und unter einem korrupten, menschenverachtenden, totalitären sozio-politischen System aus. Sie erlaubt es Leser*innen, eine postpandemische Welt kognitiv, normativ und emotional zu erleben. Atwood beschreibt guerilla- und urban gardening -Projekte als nachhaltige Formen von Gartenbau und Landwirtschaft und als dringliche Optionen alternativer Lebensführung, die Respekt für Natur und Tiere miteinschließt und die Mensch-Natur-Beziehung, den Umweltschutz sowie alternative Formen der Ökonomie und Gemeinschaftsbildung zentral setzt. Sie lädt Leser*innen dazu ein, die eigene Lebensführung zu reflektieren und sich u.U. sogar in Nachhaltigkeitsprojekten und für nachhaltigere Lebensformen zu engagieren. Kulturelle Produkte haben folglich das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten und zur Entwicklung einer neuen, ökologisch orientierten Ethik beizutragen, die den anthropozentrischen Fokus traditionell ausgerichteter Ethiken durch einen ersetzt, der die nicht-menschliche Welt, d.h. Natur und Tiere miteinschließt (s.u. 3.2; vgl. Rippl 2019a, 223–224; Zapf 2008, 854).
Kulturelle Nachhaltigkeit lässt sich auf besonders fruchtbare Weise nicht nur im Zusammenhang mit Literatur, sondern auch anhand anderer kultureller Produkte wie Kunstwerke, Filme, religiöse Narrative etc. diskutieren, da diese un-/ökologische Vorstellungen verhandeln, aber auch prägen können. Seit den 1970er-Jahren erfährt z.B. ökologisch orientierte bildende Kunst, häufig Eco-Art genannt, weltweit zunehmende Aufmerksamkeit (Weintraub 2015). Eco-Art macht auf verschiedene innovative Weisen, etwa über eine spezifische Themen-, Format- oder Materialwahl, auf die Dringlichkeit von Nachhaltigkeit aufmerksam (Kagan 2011 und 2019). Beispiele sind Robert Smithsons Installationen in Wüstenlandschaften oder George Steinmanns gesellschaftspolitisch relevante transdisziplinäre Installationen, die darauf abzielen, im Zeitalter des Anthropozäns Nachdenken und damit ethisches, nachhaltigeres Verhalten zu initiieren. Auch Eduardo Kacs ‚bio art‘, dessen biotechnologische Kunstpraktiken in Labor stattfinden, wo Bakterien und andere lebende Organismen verwendet und modifiziert werden, ist in unserem Zusammenhang zu nennen. In seinem Werk Natural History of the Enigma (2003–2008) verschmolz der Künstler seine eigene DNA mit den genetischen Komponenten einer Petunie und nannte das hybride Wesen ‚ plantimal ‘. Ein weiteres Beispiel ist Carsten Hoellers SOMA-Installation im Berliner Hamburger Bahnhof 2010 (cf. Hildebrandt 2011).
Interessanterweise lässt Atwood im zweiten Roman ihrer Trilogie, The Year of the Flood (2009), eine Künstlerin auftreten, Amanda Payne, die sich genau wie die oben genannten Gegenwartskünstler*innen der ‚bio/land art‘ verschrieben hat und monumentale Installationen aus Tierknochen oder vergifteten toten Tieren kreiert, die sie in der Form von riesigen Großbuchstaben zu Wörtern wie ‚KAPUTT‘ anordnet, mit Sirup übergießt, Insekten daraufsetzt und schließlich aus der Luft Fotos schießt, die dann in Galerien für reiche Kunstliebhaber*innen ausgestellt werden. Mit ihrer kryptischen, vergänglichen Bio-Schrift verbindet die Künstlerin Natur und Kultur aufs Engste und fasst mit dem Wort ‚KAPUTT‘ nicht nur die geschilderte postpandemische Lage des Planeten Erde zusammen, sondern verweist darüber hinaus auf die prekären sozialen und politischen Umstände. Indem Atwood ihren Leser*innen zahlreiche Beschreibungen nicht-menschlicher Natur präsentiert und darüber hinaus mit ihren Öko-Ekphrasen 6 der ‚bio/land art‘ Amanda Paynes den Dualismus zwischen Natur und Kultur auflöst, trägt sie zu Nachhaltigkeit bei: Erstens präsentiert sie eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Gefühlen und Meinungen, die ihre Figuren zu ökologischen Fragen an den Tag legen; zweitens implementiert ihre Romantrilogie ökologische Konzepte im sozialen Imaginären (s.u. 3.2), was den Leser*innen erlaubt, unterschiedliche Lebensstile fiktiv zu erleben; drittens präsentieren ihre Romane eine Form von Ethik, die es den Leser*innen ermöglicht, über ökologisch nachhaltiges Verhalten und Technologien nachzudenken. Kulturell nachhaltig sind Atwoods Romane aber auch deshalb, weil eine so berühmte Autorin wie Atwood durch die Preise, die ihre Werke erhalten, und aufgrund ihrer großen Präsenz in der Öffentlichkeit und den Massenmedien selbst für kulturelle Nachhaltigkeit sorgt.
Neben Romanen wie Atwoods The Year of the Flood oder Don DeLillos Underworld (1998), der sich mit der technisch-ökonomischen Globalisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt und neben Abfalldeponien, Müllhalden, Ablagerungen von Giftmüll und der ‚waste art‘ der Künstlerin Klara Sax in langen Ekphrasen auch die Unterwelten des kulturell Verdrängten Amerikas beschreibt (vgl. Zapf 2019b, 373–374), dürften Science-Fiction-Filme wie James Camerons Avatar (2009) ebenfalls grossen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie wir unseren Planeten Erde, die rasante Globalisierung, den Kampf um Ressourcen und unsere Beziehung zur nicht-menschlichen Natur denken. Sich mit solchen kulturellen Produkten auseinanderzusetzen heisst, sich auf abweichende Vorstellungen von einem guten Leben und einer nachhaltigen Zukunft einzulassen, ohne andere Sichtweisen vorschnell abzutun, sondern sich der Komplexität unserer Welt zu stellen. Im Sinne einer kulturellen und literarischen Ökologie lässt sich festhalten, dass die kulturwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung Visionen möglichen Handelns und Erlebens analysiert, wie sie besonders im fiktionalen Bereich, aber auch in anderen Narrativen zu finden sind, wo durch kreatives Experimentieren eine kulturelle Erneuerung der Gesellschaft ständig antizipiert wird und Kontinuität und Innovation austariert werden.
3.2 Kulturelle Nachhaltigkeit – Ökologisches Imaginäres – Wertebildung
Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass sich die kulturwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung intensiv mit unmittelbar normativen Fragen beschäftigt, weil gerade kulturelle Produkte, die komplexes Lebenswissen und zentrale Werte wie Respekt vor der Natur sowie die Vorzüge kultureller Diversität vermitteln, die gesellschaftliche Implementierung von Lebenswissen und Werten allererst gewährleisten. Ein grundsätzlicher Beitrag der Kulturwissenschaft zur Nachhaltigkeitsdebatte liegt also in der Auseinandersetzung mit der Frage: Was für ein Leben wollen wir in Zukunft führen und auf welche Grundwerte verständigen wir uns (vgl. Wellner 2019)? Als ein normatives Konzept reichen die Implikationen von Nachhaltigkeit tief in den kulturellen Haushalt von Gesellschaften hinein. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Positionen und Entwicklungen innerhalb der Nachhaltigkeitsforschung und -politik verdeutlicht, wie sehr vorgenommene Korrekturen des Nachhaltigkeitskonzepts und der Nachhaltigkeitspolitik der wichtigen Einsicht geschuldet sind, dass nachhaltiges Verhalten eng mit kulturellen und (von Kultur geprägten) persönlichen Werten zusammenhängt. Bei der Entwicklung einer nachhaltigeren Gesellschaft spielen Werte wie Umweltschutz, Generationengerechtigkeit oder nachhaltige Bildung eine zentrale Rolle, weil das Wertebewusstsein menschliche Handlungsweisen prägt. Kulturelle Produkte nehmen in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion ein, weil Literatur, Film oder religiöse Narrative Werte entwickeln, formen und verhandeln und in der Folge konstitutiv für unsere ethischen Entscheidungen und unser Handeln sind. In diesem Zusammenhang ist Charles Taylors Konzept des ‚sozialen Imaginären‘ von Interesse. Dieses ‚soziale Imaginäre‘ besteht, so Taylor, aus Narrativen, Bildern und Ideen, die von vielen Leuten geteilt werden und soziale Praktiken ermöglichen: „making possible social practices and a widely shared sense of legitimacy“ (Taylor 2004, 23). Taylor erklärt seine Präferenz für den Begriff des ‚Imaginären‘ durch sein Interesse daran, wie sich Leute, d.h. große Gruppen von Menschen, wenn nicht sogar von einer ganzen Gesellschaft (und eben nicht nur gebildete Wissenschaftler*innen), ihre soziale Umwelt vorstellen. Die geteilten Vorstellungen finden meist nicht in Theorien, sondern in Bildern, Geschichten und Legenden ihren Ausdruck („ordinary people ‚imagine‘ their social surroundings, and this is often not expressed in theoretical terms, but is carried in images, stories, and legends“, Taylor 2004, 23). Das soziale Imaginäre ist komplex und hat faktische wie normative Anteile: „Such understanding is both factual and normative; that is, we have a sense of how things usually go, but this is interwoven with an idea of how they ought to go, of how missteps would invalidate the practice.“ (Taylor 2004, 24) In aktuellen Diskussionen über kulturelle Nachhaltigkeit wird in Anlehnung an Taylor häufig der Begriff des ‚ökologischen Imaginären‘ verwendet (Meireis & Rippl 2019b), was sich aufgrund der normativen Dimension anbietet. Der Begriff des ‚ökologischen Imaginären‘ dient dazu, die tiefgreifende Formung unserer kognitiven, normativen und emotionalen Wahrnehmung von Umweltthemen und Nachhaltigkeit durch kulturelle Produkte wie Bilder, Filme, graphic novels und Narrative zu beschreiben, die dann aufgrund ihrer normativen Dimension geteilte Handlungsoptionen eröffnen.
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