»Oh Gott, oh Gott, zeig mal her, steht das wirklich da? Sowas studiert ihr? Und das soll Kultur sein? Muss gute Literatur pornografisch sein?«
Danach kam sie öfter und fragte mich, ob ich ihr Seite 59 des Buches »Gipfel der Genüsse bei der Schilderung der Weine« in der Ausgabe der Wissenschaftlichen Akademie in Damaskus aufschlagen könne, damit sie den Text mit eigenen Augen nachlesen und sich an ihren Neuentdeckungen ergötzen konnte. Manchmal trug sie schwer am Gewicht der Welt, weil sie von ihren beiden Söhnen getrennt war. Baschar hatte man wegen einer Korruptionsaffäre ins Gefängnis geworfen, und Fatih war wieder in Saudi-Arabien. »Spiel mir einen irakischen Mawwal vor!«, sagte sie dann. Ich schaltete den Kassettenrekorder an, und wir hörten Nazim al-Ghazali eine der Rumiyyat von Abu Firas al-Hamdani singen:
»Ich sagte, als neben mir eine Taube gurrte – o Nachbarin, fühlst du wie ich …«
Daraufhin senkte sie den Kopf, brach in Tränen aus und zitterte am ganzen Körper.
Ein paar Tage vor Nana Umm Baschars Tod wachte meine Großmutter morgens wütend auf. Sie sprach kein Wort und brachte mir nicht einmal eine Tasse Kaffee, wie sonst, ans Bett. Ich fragte sie, was los sei, aber sie schwieg. Als ich jedoch insistierte, weinte sie und sagte, sie habe geträumt, mein Großvater, der bereits seit zehn Jahren tot war, habe sie verlassen und ihre Schwester Umm Baschar geheiratet. Sie war sehr aufgebracht und regelrecht eifersüchtig. Als Nana Umm Baschar zum Kaffeetrinken kam, war der Zorn meiner Großmutter noch nicht verraucht, ihre Augen sprühten Funken. In der Nacht darauf erlitt Nana Umm Baschar einen Schlaganfall, und wenige Tage später starb sie. Großmutter vergoss, genau wie ich, viele Tränen. »Welch ein Glück«, meinte sie dann aber, »dass dein Opa sie geheiratet und mitgenommen hat und nicht mich!«
*
Als ich Aleppo verließ, hatte Nadjwan gerade ihren dritten Sohn bekommen. Sie war mit einem Ingenieur für Lebensmitteltechnologie verheiratet. Er war Teilhaber einer Konservenfabrik an der Straße nach Kafr Hamrah, die weiter bis zur Stadt Azaz an der türkischen Grenze führte. Im Januar 2012, nachdem die Angriffe der bewaffneten Gruppierungen auf das nördliche Umland von Aleppo sich zugespitzt hatten, wurde die Fabrik überfallen, in ihre Einzelteile zerlegt und in die Türkei transportiert, um dort zum Schrottpreis verkauft oder von sogenannten Fabrikpiraten wieder zusammengesetzt zu werden. Das gleiche Schicksal ereilte dutzende Fabriken, und wie einige Medien berichteten, arbeiteten manche Geschäftsleute aus Aleppo mit diesen Gruppierungen zusammen und forderten sie von sich aus auf, ihre Werke zu zerlegen, damit sie sie in der Türkei wiedereröffnen konnten. Nadjwans Mann allerdings verlor sämtliche Ersparnisse und begann 2014, mit einem Wagen vor dem Haus Hummus und Bohnensuppe zu verkaufen, die Nadjwan zubereitet hatte. Ich war immer gespannt Nadjwans politische Einschätzungen zu hören, denn sie überraschte mich oft mit unerwarteten Positionen. Seit meinem ersten Studienjahr war sie an meiner Seite. Vier Jahre zuvor war sie aus den Emiraten gekommen, hatte die Sekundarschule in Aleppo besucht und sich dann an der Universität eingeschrieben. Ihre Familie stammte ursprünglich vom Land. Bei den Vorfällen in den Achtzigern, genauer gesagt in ihrem achten Lebensjahr, war ihr Vater wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung festgenommen worden. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Leute in Zivil mit Pistolen in ihr Haus eingedrungen waren. Im Morgengrauen hatten sie ihren Vater, ohne dass er Widerstand geleistet hätte, vor den Augen seiner Frau, seiner Eltern und all ihrer Geschwister abgeführt. Danach hörte niemand mehr etwas von ihm. Fünf Jahre lang schaltete man alle möglichen Leute als Vermittler ein, ob sie ihn nun gekannt hatten oder nicht, bezahlte hohe Summen, und die Frauen gaben ihr Gold, nur um Gewissheit zu erlangen, ob er noch lebte. Dann erhielten sie die Nachricht, man habe ihn liquidiert. Sie kam von einem anderen Häftling, der ihn im Tadmur-Gefängnis getroffen hatte. Nadjwans Mutter heiratete daraufhin den ledigen Bruder ihres Mannes, der mit ihnen in ihrem Haus im Bezirk Bustan al-Qasr lebte. Die Familie mit den drei Kindern und der schönen, noch keine dreißig Jahre alten Mutter sollte schließlich eine Zukunft haben.
Nachdem der Großvater und die Großmutter bereits gestorben waren, hörte man es an einem Septemberabend im Jahr 1995 an die Tür klopfen. Nach fünfzehn Jahren war der Häftling aus dem Gefängnis zurückgekehrt und suchte nun im Hause seines Vaters nach seiner Frau und seinen Kindern. Es war eine harte Zeit, jeder von ihnen, einschließlich der beiden Kinder, die Nadjwans Mutter von ihrem Onkel bekommen hatte, litt schrecklich unter der Situation. Letztendlich jedoch entschieden sie sich alle dafür, bei ihrem Onkel zu bleiben. Sie reisten in die Emirate aus und ließen ihren Vater allein im Haus zurück, der es daraufhin in eine Koranschule umwandelte. Nadjwan war so mutig, Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellten, zu überwinden, sie war gutherzig, fleißig und wissbegierig. Ihr Studium setzte sie bis zum Abschluss fort und ließ sich auch von ihrem Kopftuch nie davon abhalten, sich unter ihre Kommilitonen und Professoren zu mischen, zu reisen oder zu feiern. Genauso wenig stand ihre Vergangenheit ihrer Zukunft im Weg. »Als ich in meinen Erinnerungen keine Ordnung schaffen konnte«, sagte sie einmal zu mir, »habe ich es einfach seinlassen. Genau wie man es sich verkneift, ein schmutziges Zimmer aufzuräumen, wo Chaos herrscht und Reisekoffer herumliegen, sodass man gar nicht mehr weiß, wo man anfangen soll. Da geht man dann lieber hinaus, schlägt die Tür hinter sich zu und verschwindet.«
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Nasser führte mich zurück in lieb gewonnene Regionen meiner Erinnerung, die ich irgendwann verlassen hatte und von denen ich nie gedacht hätte, dass sie noch da waren. Er versetzte mich in eine Zeit zurück, in der mir die Zukunft nicht schnell genug kommen konnte. Jetzt, da sie da war, reiste ich zurück in die Vergangenheit, und Nasser gab den Anstoß dazu.
Er musste einer der gutaussehenden jungen Männer in weißen Shorts und bunten Hemden gewesen sein, die in der Villa der al-Haffar gewohnt hatten. Dieses Haus, mit dem warmen Licht der Kristallleuchter an den hohen Decken hatte ich sehr gemocht. Ich liebte die Gemälde, die sich ordentlich an die Wand reihten, die von der Straße aus sichtbar war. Was ich jedoch am meisten liebte, war der große Chinarindenbaum, dessen Zweige sich bis zu den Fenstern im zweiten Stock reckten, um die Hausbewohner vor den Augen der Neugierigen zu verbergen. An brütend heißen Julitagen, wenn ich von einem ausgedehnten Spaziergang durch den Souk von Azizieh oder von den Hügeln heimkehrte, kaufte ich mir bei Kan ya ma kan ein Glas Tamarindensaft und genoss seinen süßsauren Geschmack im Schatten unter diesem Baum.
Frau Schahira war in Damaskus aufgewachsen, hatte an der Philosophischen Fakultät Arabisch studiert und Herrn Adham al-Amiri geheiratet, den Sohn eines Freundes der Familie, der im Palästina unter dem britischen Mandat ein bedeutender Ökonom gewesen war. Aus Haifa waren sie später nach Amman gezogen. Er war an der Gründung der Arabischen Bank beteiligt gewesen und hatte ihre wirtschaftliche Strategie mitentworfen. Nassers Vater Adham hatte nach seinem Studienabschluss an der École Polytechnique in Paris die Arbeit seines Vaters im Kollektiv der Bank fortgesetzt. Dann starb er mit Mitte fünfzig an einem Herzinfarkt. Nach seinem Tod kam Schahira oft nach Aleppo, denn sie hatte ihren Geschwistern deren Anteile an der Villa ihres Vaters abgekauft. Und wenn Nassers Schule, das Islamic Educational College in Amman, Ferien hatte, begleitete er sie.
Zum letzten Mal hatte er Aleppo vor den gewaltsamen Auseinandersetzungen von 1982 zwischen der Baath-Regierung und den Muslimbrüdern besucht, die Aleppo, die Hochburg der Sunniten, als ihre Heimstätte ansah. Danach war Nasser nach Amerika aufgebrochen. Seine Mutter war ihm gefolgt, kehrte nach seiner Heirat aber zurück, um den Rest ihres Lebens in Amman zu verbringen.
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