Genüsslich schlürfte sie ihren Kaffee aus den mit Romeo-und-Julia-Motiven bemalten Tassen meiner Großmutter und berichtete uns von den Konflikten zwischen der Regierung und den Muslimbrüdern in Hama, von denen uns unser Onkel nichts erzählte:
»Als sie kamen, um das Haus der Bayraqdars zu durchsuchen, versteckte der Hausherr seine Pistole im Heizofen, der von den Wintertagen her noch dastand. Der Offizier und seine Männer betraten das Haus, stellten es auf den Kopf und fragten den Hausherrn nach Waffen. Er verneinte, aber sein kleiner, vierjähriger Sohn, der gesehen hatte, wie sein Vater die Pistole versteckt hatte, plapperte los: ›Onkel, die Pistole ist da!‹, und zeigte auf den Ofen. Augenblicklich verhaftete man den Vater, der für immer verschwunden blieb.« Nana Umm Baschar murmelte noch etwas, seufzte und schloss mit den Worten: »Nun, ja, Gott verschone seine Diener mit solchen Dingen!« Nachdem sie ihr tägliches Füllhorn voller Geschichten geleert hatte, verließ sie die Wohnung meiner Großmutter und ging rüber zu Frau Schahira, Nassers Mutter, die inzwischen ebenfalls aufgewacht war und in Erwartung Ra’ifa Hanims den Kaffee aufs Feuer gestellt hatte.
Nana Umm Baschar hatte zwei Söhne, Baschar und Fatih. Baschar war praktischer Arzt ohne Facharztausbildung und wurde, als langgedienter Baathist, zum Hygienebeauftragten für die Restaurants in Aleppo ernannt. Dies war ein sehr angesehenes Amt, denn Aleppo war berühmt für seine Küche, die den türkischen Mittelmeergeschmack mit der arabischen Tradition verband. Doktor Baschar hatte viel zu tun und besaß großen Einfluss, schließlich war er für die Lizenzen verantwortlich und ahndete Verstöße gegen die Reinheits- und Hygienevorschriften. Vom mobilen Händler für Lakritz und Sahlab über die Sandwichläden bis hin zu den luxuriösesten Hotels gab man sich die größte Mühe, ihn zufriedenzustellen. So kochte Nana Umm Baschar fast gar nicht mehr, sondern bezog all ihre Mahlzeiten reihum von den verschiedenen Restaurants. Vor ihrer Wohnung parkten stets die unterschiedlichsten Fahrzeuge: Fahrräder, deren Fahrer mit Zellophan verpackte Schüsseln auf der Hand balancierten, Motorroller mit in Papiertüten gestapelten Tellern auf dem Gepäckträger und Autos, die bestimmten Restaurants gehörten und aus denen man Speisen und Getränke in mannigfaltigen Farben entlud. Zum Mittagessen gab es bei ihr immer Gegrilltes und Kibbeh Nayyeh, zum Abendessen Wurst- und Schawarma-Sandwiches. Ihr Frühstück aber bestand aus syrischem Grießpudding und Puddingteilchen mit Sahne und Haselnüssen. Zu den Abendveranstaltungen im Aleppo-Club, im Jalaa Sporting Club oder im Restaurant Sirubian war immer ein Tisch reserviert, und auch ihre Angehörigen und Gäste kamen in den Genuss dieser Vorzugsbehandlung.
Fatih hingegen, ihr zweiter Sohn, war schon in jungen Jahren bei ihr ausgezogen, weil er von all dem sündhaften Essen, Geld und Einfluss seines Bruders nicht profitieren wollte. »Doch wenn dich deine Eltern drängen, dass du mir etwas beigesellst, wovon du gar kein Wissen hast – gehorche ihnen nicht!«, hatte er damals zu seiner Mutter gesagt. Seit seiner Pubertät stand Fatih unter dem Einfluss seiner Cousins, der Söhne seiner Tante Sumayya, die in der Organisation der Muslimbrüder Rang und Namen besaßen. Sie hatten ständig über den Bruder hergezogen und ihm die Augen für dessen Sünden geöffnet. Eine subtile Mischung aus Einschüchterung und Versprechen bewirkte, dass er sich ihnen anschloss und später zu einem aktiven Mitglied ihrer Vereinigung wurde.
Fatih hielt sich lange von der Wohnung seiner Mutter fern, erst vor den gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Aleppo im Jahr 1980 erschütterten, bekam sie ihn wieder zu Gesicht. An jenem Abend, an dem eine Ausgangssperre verhängt worden war – im Juni hatten sich die Tore der Hölle aufgetan –, hatte er den Befehl, zehn Maschinengewehre und zusätzlich eine hölzerne Kiste mit zehn Handgranaten, vom Haus eines hohen Funktionärs der Organisation im Viertel Hulluk fünfundzwanzig Kilometer weit nach Süden zu transportieren. Dafür kam er nach Hause zurück und nahm dort den Schlüssel des Doktor Baschar zugewiesenen Landrovers an sich, der als Staatseigentum ein grünes Kennzeichen trug. Das garantierte, dass man ihn nicht durchsuchen würde. Fatih stellte die Kisten in den Kofferraum und brachte seine Aufgabe unbehelligt zu Ende. Stunden später gab es einen Angriff auf die Artillerieschule in Aleppo, bei der etwa hundert alawitische Offiziere ihr Leben ließen. Nach diesem Vorfall reiste Fatih in die Türkei aus und begann an der Universität in Istanbul Chemie zu studieren. Er promovierte, heiratete eine Tochter seiner Tante Sumayya und wurde so zum Schwager seiner Cousins, die ihn in die Organisation gedrängt hatten. Später zog er mit seiner Familie weiter nach Saudi-Arabien und lüftete dort das Geheimnis der Mumifizierung, an dem er schon lange geforscht hatte. Eines Tages hatte er eine spezielle chemische Verbindung hergestellt, die er mit nach Hause nahm, damit sie niemand stehlen konnte. Dort goss er sie in eine Dose, in der ursprünglich Fußbodenreiniger gewesen war, und stellte sie kurz auf dem Küchentisch ab. Die Putzfrau, die gerade dabei war, die Böden zu wischen, hielt besagte Flüssigkeit für ein Reinigungsmittel, goss ein wenig davon in den Putzeimer – und ihre Hand wurde plötzlich steif.
Doch bevor Fatih wegen dieser Erfindung zu Ruhm gelangen konnte, traf Scheich Ammar für ihn ein Arrangement mit der Obrigkeit. Scheich Ammar war weit und breit die einzige Anlaufstelle für alle, die ausgewiesen, auf die Fahndungsliste gesetzt oder zu hohen, möglicherweise bis zur Exekution reichenden Strafen verurteilt worden waren. Nachdem eine im Hinblick auf seine schwere Schuld angemessene Summe bezahlt hatte, war er rehabilitiert und sein Heimatland konnte in der Folge von seinem Wissen profitieren.
Fatih hatte zwei Söhne, die ich erst Jahre später, als der Familie wieder Ein- und Ausreise gestattet waren, im Haus meines Großvaters kennenlernte. Nachdem sie in Saudi-Arabien den Bachelor gemacht hatten, wollten die beiden Jungen ihr Studium an der Universität Aleppo fortsetzen. Sie sahen befremdlich aus mit ihrem langen, ungekämmten Haar und Gesichtern voller zum großen Teil entzündeter Pickel. Ihre Jeans hatten sie bis zur Brust hochgezogen, sodass sie über den Knöcheln endeten, damit sie, wie meine Großmutter sagte, rein blieben für das Gebet. Vom Leben der Nachbarn hielten sie sich fern. Meine Großmutter bestand jedoch darauf, sie zu allen Gelegenheiten, bei denen gemeinsam gegessen wurde, nämlich im Ramadan und an Festtagen, einzuladen, schließlich waren sie die Enkel ihrer Schwester und noch dazu fremd in der Stadt. Wenn sie dann ins Haus kamen, versteckte ich mich immer oder verließ die Wohnung, denn meine Großmutter meinte, sie sähen Frauen ohne Kopftuch nicht gerne und wollten auch nicht mit Frauen zusammensitzen. Jahre später, im Dezember 2009, lief auf CNN ein Video über ein Trainingslager für al-Qaida-Mitglieder im Jemen. Die Kamera zeigte eine Rundumsicht, war aber auf unendlich eingestellt, sodass ich die Aknenarben im Gesicht des Mannes nicht erkennen konnte, der irgendwo in der Wüste hinter einem Felsen stand und schreiend befahl, die Kalaschnikows abzufeuern. Doch es war ganz bestimmt der jüngere von Fatihs Söhnen, da war kein Irrtum möglich. Er gemahnte mich an all die Überzeugungen über das Leben, die ich nicht teilte. Jedes Mal, wenn ich ihn zufällig unterwegs, in der Universität oder gar bei einem Verwandten meiner Großmutter getroffen hatte, hatte er mich streng und vorwurfsvoll angesehen, sodass ich mich stets gedrängt gefühlt hatte, mein Pflichtbewusstsein gegenüber Gott, der Religion, der Familie und meiner Weiblichkeit unter Beweis zu stellen – die Liste endete eigentlich nie.
Als Nana Umm Baschar starb, wussten wir nicht, auf wessen Seite sie war, auf Fatihs oder Baschars. Sie hatte um beide geweint, für beide gebetet und einen korrekten Lebenswandel, Erfolg und den Sieg über ihre Feinde für sie erfleht. Zur Zeit meines Studiums, als ich bei meiner Großmutter in Aleppo lebte, bemerkte Nana Umm Baschar die vielen großen Nachschlagwerke auf meinem Schreibtisch und wollte wissen, was dort eigentlich drinstehe. Also las ich ihr zum Spaß eine Seite vor, auf der es um Sexualität ging und lauter verbotene Wörter vorkamen. Sie war zunächst erstaunt, lachte dann aber laut auf und rief:
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