Als hätte mein Chef auf sein Stichwort gewartet, geht in diesem Moment die Tür zu seinem Büro auf. Mit hochrotem Kopf und leicht schnaufend kommt Herr Sahrmann heraus, die Stirn in Falten gelegt und sichtlich verzweifelt. Erst als er mich erblickt, entspannt sich seine Mimik.
„Ah, Frau Floris, da sind Sie ja endlich wieder. Sie haben mir die Unterlagen für Herrn Karlsen nicht gegeben und er müsste jeden Moment hier sein. Also, sofort auf meinen Schreibtisch damit!“, befiehlt er.
Ich muss ein Schmunzeln unterdrücken. So ist mein Chef. Er kann seine Sachen nicht finden, und dann war ich es, die sie ihm nicht gegeben hat. Zum Glück kenne ich ihn mittlerweile gut genug, um das nicht mehr persönlich zu nehmen. Am Anfang bin ich jedes Mal panisch geworden, wenn er mich so angeherrscht hat, doch jetzt bleibe ich ruhig. Entspannt lächele ich ihn an.
„Herr Sahrmann, die Angebote liegen bereits seit heute Morgen auf Ihrem Tisch. Lassen Sie mich mal machen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, gehe ich an ihm vorbei in sein Büro. Wie vermutet, Herr Sahrmann hat ein paar Ausdrucke, die er in der Zwischenzeit gemacht hat, auf die Unterlagen gelegt. Mit einem einzigen zielsicheren Griff ziehe ich sie unter dem Stapel hervor, drehe mich zu ihm um und drücke sie ihm in die Hand.
„Hier sind sie doch“, sage ich freundlich.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrt mein Chef auf die Papiere in seiner Hand. „Aber eben waren sie …“, murmelt er und schüttelt leicht den Kopf, als könnte er das Ganze nicht verstehen.
„Noch einen Kaffee, Herr Sahrmann?“, biete ich an und er schaut auf.
„Ähm, ja, bereiten Sie doch bitte ein Tablett vor und stellen Sie es mir schon her. Danke, Frau Floris, ich weiß nicht, was ich ohne Sie machen würde!“
„Das weiß ich auch nicht“, murmele ich leise, als ich das Büro verlasse und die Tür hinter mir schließe.
„Na, wo waren die Unterlagen?“, fragt Cookie lachend und lehnt sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurück.
„Wo wohl? Da, wo ich sie ihm heute früh hingelegt habe. Er hat nur diversen anderen Kram draufgepackt und sie dann in seinem Chaos nicht wiedergefunden“, erkläre ich und nehme im Stehen neben meinem Tisch einen Schluck von meinem Kamillentee. Ich habe nicht die Zeit, mich hinzusetzen, immerhin soll ich ein Tablett für Herrn Sahrmann und seinen Kunden vorbereiten.
„Ohne dich wäre er echt aufgeschmissen. Du bist nicht nur seine Sekretärin, du bist sein Gehirn! Wie kann jemand wie er nur einen solchen Posten hier bekleiden?“ Ungläubig schüttelt Cookie den Kopf und ich zucke mit den Schultern.
„Na ja, immerhin hat er mit Abstand die höchsten Verkaufszahlen. Und nur das ist es doch, was für den Vorstand zählt. Und dafür, sein Chaos zu sortieren, hat er ja mich.“
„Ja, das stimmt. Also mich dürftest du nicht zu seiner Sekretärin machen. Ich würde durchdrehen bei dem Typen! Echt jetzt, deine Arbeit ist hier nicht mit Gold aufzuwiegen, das merke ich jedes Mal, wenn ich deine Urlaubsvertretung machen muss. Da würde ich am liebsten schon nach zwei Tagen hinschmeißen.“
Lachend wende ich mich ab und gehe in die Küche. Wenn ich es richtig im Kopf habe, ist der Termin von Herrn Karlsen heute um 14:30 Uhr, das heißt, ich habe noch 15 Minuten.
Pünktlich, kurz vor halb drei, ist alles fertig. Der Kaffee ist durchgelaufen, steht in einer Thermoskanne bereit, und ein paar Kekse liegen dekorativ auf einem Tellerchen. Zusätzlich habe ich auch noch Kaltgetränke und natürlich das Geschirr auf einem Servierwagen in der Ecke des Büros angerichtet.
Herr Sahrmann betreut nur die besonderen Kunden, da muss schon immer ein wenig aufgefahren werden, wenn diese zur Beratung kommen. Besondere Kunden bedeutet in diesem Fall reiche Kunden. Solche, die mehr Geld auf ihren Konten haben, als sie ausgeben können. Nachdem ich alles bereitgestellt habe und an meinen Schreibtisch zurückkehren will, hält Herr Sahrmann mich noch einmal auf.
„Ach, Frau Floris. Das hier muss bitte heute unbedingt noch erledigt werden.“ Mit diesen Worten drückt er mir zwei DIN-A4-Zettel in die Hand, die von oben bis unten in seiner krakeligen Handschrift beschrieben sind.
„Das bekommen Sie hin, oder?“, fragt er, doch eigentlich ist es keine Frage, sondern eher eine Anweisung.
„Selbstverständlich!“, antworte ich freundlich lächelnd und schaue kurz auf die Liste. Okay, auf den ersten Blick sind diesmal wenigstens nicht solche Sachen wie „seinen Anzug aus der Reinigung holen“ oder so was dabei. Na immerhin! Herr Sahrmann gibt mir oft genug Aufgaben, die eigentlich nicht in meinen Tätigkeitsbereich gehören. Er weiß das, ich weiß das, und trotzdem tun wir beide so, als wäre es Bestandteil meines Jobs. Er, weil es so für ihn einfach praktisch ist, ich, weil ich meine Vergünstigungen, die dieser Job mit sich bringt, nicht verlieren möchte.
Nicht selten kommt es vor, dass mein Chef Einladungen für gesellschaftliche Events bekommt. Auf so etwas hat er nur, im Gegensatz zu mir, so gar keine Lust. Daher darf ich meistens für ihn zu diesen Veranstaltungen gehen.
So wie auch morgen Abend. Eine Ausstellung eines bekannten Malers wird eröffnet und auf dieser Vernissage wird die High Society von ganz Hamburg vertreten sein. Die Reichen und Schönen, die bessere Gesellschaft, die Crème de la Crème.
Natürlich ist so eine Veranstaltung immer ein Sehen und Gesehen-Werden, aber genau das ist es, was mein Plan ist – ich möchte gesehen werden. Mein Plan ist es sicher nicht, mein Leben lang das Mädchen für alles in der Bank zu spielen. Nein, so habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Mein Ziel ist es, mir irgendwann – natürlich möglichst bald – einen der 42.000 Millionäre, die hier in Hamburg ansässig sind, zu angeln. Schließlich gehört Hamburg zusammen mit Düsseldorf, München, Stuttgart und Frankfurt zu den Städten mit der höchsten Millionärsdichte. Was auch einer der Gründe war, weshalb ich ausgerechnet nach Hamburg gezogen bin.
Na gut, ein weiterer und nicht zu unterschätzender Grund ist, dass meine Familie nur eine Autostunde entfernt wohnt. Somit kann ich immer mal für einen Nachmittag dort hinfahren und meine Eltern und meinen Bruder besuchen.
Ich brauche tatsächlich bis zum Feierabend, um die Liste, die Herr Sahrmann mir gegeben hat, abzuarbeiten. Als ich endlich meinen PC herunterfahre, habe ich neben diversen Kundentelefonaten und ausgearbeiteten Angeboten auch noch einen Maniküre-Termin für meinen Chef vereinbart, seinen Golfpartner angerufen, um das morgige Spiel um eine Stunde zu verschieben, und per Blumenlieferservice einen Strauß Rosen für seine Frau verschickt. Der Text, der auf die Karte geschrieben werden sollte, lässt vermuten, dass der Haussegen mächtig schief hängt im Hause Sahrmann und dass er einiges gutzumachen hat. Außerdem gehörte zu meinen Aufgaben des heutigen Nachmittags auch, einen Tisch in einem teuren Nobelrestaurant zu reservieren. Zum Glück ist mein Chef in diesem Restaurant Stammgast, ansonsten hätte er es natürlich vergessen können, gleich heute Abend noch einen Tisch zu bekommen. Dieses Restaurant ist nicht nur schwer angesagt, der Inhaber ist auch ein bekannter Fernsehkoch und hat einen der begehrten Michelin-Sterne.
Nur zu gern würde ich selbst einmal in diesem Restaurant mit Blick auf den Hamburger Hafen speisen, doch leider fehlt mir dafür das nötige Kleingeld. Aber gut, was nicht ist, kann ja noch werden. Wenn mein Plan erst mal Wirklichkeit ist …
Vor meinem inneren Auge sehe ich mich schon an einem dieser Tische sitzen, das glänzende Silberbesteck vor mir auf dem schneeweißen, gestärkten Tischtuch. Sanftes Kerzenlicht lässt den Raum schimmern und vor mir stehen die köstlichsten Gerichte, wunderschön angerichtet und dekoriert.
„Lilly? Hallo? Jemand zu Hause? Wovon träumst du denn?“ Cookies Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.
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