Sprich es aus, Angelita, ich weiß doch, was du denkst, und ich würde es gerne von dir selbst hören: Tina Johanes hat dich nur zu deinem eigenen Besten darum gebeten, dir die Socken auszuziehen. (Angelita sagte nicht Tina Johanes, sie sagte »die Lehrerin«.) Damit du nicht ausrutschst. Damit du nicht hinfällst und dir wehtust. Damit du besser tanzt. So wie der Junge in der Stunde neulich, als du aus der Choreographie ausgestiegen bist (sie sagte nicht Choreographie, sie sagte »Tanz«). Du übertreibst. Dir fehlt jegliche Empathie (sie sagte es nicht so, sie sagte »du kannst dich nicht in andere hineinversetzen und bist eine Egoistin«). Du hast für den Tanzkurs bezahlt, das heißt, du hast dafür bezahlt, Anweisungen zu bekommen (auch das sagte sie nicht so, sie sagte: »Du hast dich für einen Tanzkurs angemeldet, und was nützt es, sich für einen Tanzkurs anzumelden, wenn du die Tanzschritte nicht lernen willst«). Du willst (und das sagte sie genau so) auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen, Nati, und außerdem bist du ganz schön prospanisch. Jetzt haben wir es doch, Angelita, das ist genau der Schuh, den ich mir anziehen wollte, danke, danke, danke! (Darauf antwortet sie beleidigt, weil ich sie bei ihrem eigentlichen spanischen Namen rufe und nicht bei ihrem umgetauften katalanischen – Àngels –, und weil ich überdies das Diminutiv benutze.) Das Reaktionäre kann man dir nachsehen, Nati, weil du ganz gut aussiehst (in Wirklichkeit bedeutete das: »Du verhältst dich wie eine Rotzgöre und niemand sagt dir was, weil du so hübsch bist«). Da liegst du falsch, antwortete ich. Du liegst total falsch. Wer einigermaßen gut aussieht, und ich rede nicht mal von einer wirklichen Schönheit oder einer heißen Braut, hat kein Recht, radikal zu sein. Warum beschwert sie sich, so schön, wie sie ist? Wie kann sie so gut aussehen und trotzdem so unzufrieden mit ihrem Leben sein? Wie kann sie so gut aussehen und dann quellen lauter Kröten und Schlangen aus ihrem Mund, das ist doch so hässlich bei einer Frau, die gar nicht hässlich ist. Wie kann sie es wagen, mein Kompliment oder meine Pfiffe zu missbilligen, ich schmeichle der Nutte damit doch nur? Der andere Zensurmechanismus gegen Radikalität von hübschen Frauen funktioniert ganz ähnlich wie das, was du gerade gesagt hast: Sie üben Kritik, weil sie hübsch sind, sie trauen sich, weil sie hübsch sind, und weil sie hübsch sind und eine adrette Verpackung für ihre Antwort, kommt ihre Kritik an und wird gehört. Aber Vorsicht, du und ich ziehen gerade genau die gleiche Scheiße ab, Angelita! Gerade so wie diese Hippies mit ihren Modelmaßen, sie sind keine fünfundzwanzig, stecken sich Blümchen ins Haar und zeigen ihre Titten im Kongress und im Vatikan, statt Femen sollten sie sich besser Samen nennen, bei all den Ergüssen, die sie bei ihren patriarchalen Zielen auslösen.
Ich schieße mich wahnsinnig gern so auf Angelita ein, denn auch wenn man uns äußerlich kaum etwas anmerkt, sind wir innerlich wie im Rausch, wir sind total eloquent, Ángelas Stottern verstärkt sich und wir reden den Rest der kleinen Versammlung an die Wand, normalerweise sind das die immer gleichen Leute: Ángela selbst, Marga und ich. Und manchmal kommt noch meine Halbschwester Patricia dazu oder irgendeine Freundin von ihr, eins von diesen Samen-Mädels, oder irgendeiner von ihren Freunden, keine Ahnung, ob die Machos sind, das sind nämlich weder Spanier noch habe ich je länger als fünfzehn Minuten mit einem geredet, Bohemiens sind sie nämlich auf jeden Fall, und die sind noch unerträglicher als ihre üblichen Kampfgenossinnen von Samen. Meine Halbschwester hat ihre winzigen Titten aber nur ein einziges Mal in der Öffentlichkeit gezeigt – Nippel wie Eidotter auf einem glatten Brustkorb –, und zwar am Schalter eines Pornoterrorismus-Spektakels, als die Kassiererin ihr sagte, wenn sie ihre Brüste zeigt, kommt sie umsonst rein.
Marga liest überhaupt gar nichts, nicht mal Zeitschriften beim Frisör, nicht mal die Zeitschriften beim Frisör, in denen nur Fotos von Frisuren sind, also war es eine überaus selbstlose Geste von ihr, mir ein Fanzine aus dem autonomen Zentrum mitzubringen, wohin sie die vom PAH geschickt hatten. Das Fanzine lässt den glücklichen Augenblick wieder aufleben, in dem die Bolivianerin María Galindo das Konzept des Bastardismus begründete, siehe Seite 106 und 107 ihres Buches Feminismo urgente. ¡A despatriarcar! , erschienen 2013 in Buenos Aires:
Da sich das Verlangen in der Gesellschaft nicht frei verbreitet und dies auch nie tat, da es durch den kolonialen Herrschaftskodex gezügelt wurde, können wir nicht von Mestizaje sprechen.
Wegen jener kolonialen Zähmung des erotisch-sexuellen Verlangens ziehe ich es vor, bei der Mischung von Weißen und Indigenen nicht von Mestizaje zu sprechen, sondern von Bastardisierung . Es gab eine Vermischung, ja, und diese Vermischung war so weitreichend, dass sie die gesamte Gesellschaft umfasst, ja, aber es war keine freiwillige, horizontale Vermischung; es war vielmehr eine erzwungene, unterdrückte, gewalttätige oder verborgene Vermischung, und ihre Rechtmäßigkeit war stets mit Erpressung, Überwachung und Erniedrigung verknüpft. Mestizaje ist die halbe Wahrheit, und wenn man das Deckmäntelchen der Scham und der Heuchelei wegzieht, dann heißt es Bastardisierung . Die halbe Wahrheit, und wenn man ihr die Schminke, die Verstellung und die Masken wegnimmt, heißt es Bastardisierung .
Mestizaje ist nur die halbe Wahrheit über einen gesellschaftlichen Ort brutaler Konflikte, herzzerreißend ungelöst, schmerzhaft unrecht und etliche Male verboten. Dies mit seinem eigenen Namen zu benennen ist ein Akt der Befreiung, ebenso wie die Möglichkeit zu sagen, hier gibt es keine Mestizinnen, sondern nur Bastarde. Der Status als Weiße ist ebenso wie der Status als Indigene eine Art fiktiver Zufluchtsort, um zu verbergen, was am furchterregendsten ist, und das ist die ungelöste Frage nach der Herkunft.
Man könnte sagen, dass der Bastardismus meine Ideologie ist, auch wenn die Begründerin des Konzepts das Konzept der Ideologie verabscheut, denn es enthält zu viel Avantgarde, Akademie und deshalb auch hierarchische und patriarchale Strukturen. Tatsächlich spricht María Galindo nicht von Bastardisten, sondern schlicht und einfach von Bastarden. Das mit dem Bastardismus, mit der Endung -ismus , die die klassische ideologische Verhaftung anzeigt, ist meine Angelegenheit.
Vor ein paar Monaten hörte ich begeistert einen Vortrag, den die Autorin im Museum für Zeitgenössische Kunst Barcelona (MACBA) hielt, vor genau so vielen Monaten, wie es brauchte, um die in Spanien nicht erhältlichen Bücher, die darum von ihr aus Bolivien mitgebracht worden waren, zu Fanzines zu verarbeiten und in anarchistischen Räumen zu verteilen. Ihre Bücher waren zwar sehr billig (10 Euro für über 200 Seiten, mit Farbfotos und sogar einer DVD dabei), aber ich habe weder Geld noch die Absicht, Bücher von einer Lesung mitgehen zu lassen, die mich zum Weinen gebracht hatte. Erst dachte ich, dass ich aus demselben Grund weine, aus dem Kinder bei der Geburt weinen, wegen des Übergangs von einem Leben in ein anderes, wegen des Übergangs von der Dunkelheit ins Licht. Aber dieses Weinen hat etwas Schmerzhaftes, und die Worte Galindos hatten mir nicht wehgetan, sondern mich gestreichelt, sie hatten mich umarmt, sie hatten mich geliebt, wie ein verständnisvoller und erfahrener Liebhaber seine unerfahrene oder gar jungfräuliche Geliebte liebt. In Sachen bastardistischem Bewusstsein war ich eine Jungfrau. Galindo glaubt nicht, dass Schmerz oder Trauma eine Quelle der Befreiung sind. Also weinte ich vor lustvoller Freude. In diesem konkreten Fall vor Freude an der Politisierung, genauer, vor Freude daran, aus dem Sumpf der Unterdrückung aufzutauchen. Freude daran, den Zeigefinger zu entdecken, ihn auszustrecken und auf den Unterdrücker zu richten. Zeigen zu lernen, vom Opfer zum handelnden Subjekt zu werden: diese Freude. Die Politisierung vollzog sich schnell, in den gerade mal fünfzig Minuten, die María Galindo für ihre Rede hatte.
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