Keine Ahnung, ob ich im totalitären Staat weniger schlecht dran war, aber zum Teufel mit diesem totalitären Markt, sagt meine Cousine, die während der Sitzung der PAH losgeheult hat, als sie erfuhr, dass sie mindestens 1025 Euro pro Monat verdienen muss, um eine Sozialwohnung zu bekommen. Weine nicht, Marga, sage ich und reiche ihr ein Taschentuch. Du solltest dich damit trösten, dass der Markt jetzt einen weiblichen Namen hat: Der Supermarkt Mercadona, ein totalitärer Ort, wo die Überwachungskameras nicht in den Gängen, sondern über den Köpfen der Angestellten hängen, und darum können wir das Deo und die Binden mitgehen lassen und sogar Kondome aus den Kartons holen, die diese piepsenden Aufkleber haben, und sie uns in die Taschen stecken. Ich sage Margarita immer, sie soll mal zur Menstruationstasse wechseln, dann müsste sie keine Binden und Tampons mehr klauen und hätte in den Taschen mehr Platz für anderes Zeug, für Honig zum Beispiel oder den sauteuren ColaCao. Sie sagt, die Menstruationstasse kostet dreißig Euro, und dass sie keine dreißig Euro hat und dass es die Tasse nicht im Supermarkt gibt, sondern in der Apotheke, und in Apotheken ist es total schwierig zu klauen, denn da sind die Kameras ja auf die Kunden gerichtet und die Tür klingelt jedes Mal, wenn jemand rein- oder rausgeht. Ich habe versucht, einer Freundin zum Geburtstag eine Menstruationstasse zu klauen, aber ich hab keine gefunden, nicht mal im Corte Inglés, und bei Apotheken hab ich Hemmungen. Aber wie wäre es mit einer Apotheke, wo der Apotheker schon ganz alt ist, und zwar nachts, beim Notdienst? Du solltest aufhören, Kondome zu klauen, und die Pille nehmen, sagt sie, denn bis du endlich die vierzig Plastikhüllen der Schachtel offen hast – unauffällig geht anders. Vergiss es, sich mit Hormonen vollstopfen, systematisch unter Drogen setzen lassen, nur um dem Macho den Spaß zu gönnen, ihn nicht rausziehen zu müssen. Und die Pille hat ja wohl einen Scheiß mit Emanzipation zu tun. Die Dermatologen verschreiben sie, damit die Mädchen ihre Pickel loswerden, denn die Pubertätsakne ist natürlich eine Krankheit, klar, aber es geht nicht darum, mehr oder weniger hübsch zu sein, oh nein, und auch nicht darum, als Gefäß für den Samen herzuhalten. Es geht doch um die Gesundheit unserer Jugend, das will mir nicht in den Kopf. Man kann ohne Kondome nicht promiskuitiv sein, Marga, schon wegen der sexuell übertragbaren Krankheiten, schon darum nicht. Ach, das sind jetzt also Krankheiten, ja?, antwortet sie. Etwa nicht?, antworte ich. Aber Aids gibt es gar nicht, Nati, was erzählst du denn da. Nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung. In Spanien haben wir mehr Selbstmorde pro Jahr als Aids-Diagnosen. Aber ich fick ja nicht mit Spaniern, Marga, das sind nämlich alles Faschisten. Fuck, Nati, du bist echt reaktionärer als eine Reliquienmonstranz. Und du bist ein Hippie, schneid dir doch mal diese Zotteln ab.
In einer anderen Tanzstunde in der Tagesförderstätte für Erwachsene La Barceloneta (TAFEBAR) sagte uns die Lehrerin für Zeitgenössischen Tanz, dass wir uns die Socken ausziehen sollen. Wir würden Pirouetten machen und sie wollte sichergehen, dass wir nicht ausrutschten. Also zogen sich alle ihre Socken aus, alle außer mir, denn ich hatte eine gerade verheilende Blase am rechten großen Zeh. Die Lehrerin wiederholte ihren verschleierten Befehl. Er war aus zwei Gründen verschleiert: Erstens, weil sie nicht sagte »Zieht euch die Socken aus«, sondern »Wir ziehen uns die Socken aus«, sie gab also keinen Befehl, sondern benannte das Ergebnis und ersparte sich so die unpopuläre Verwendung des Imperativs. Und zweitens war er verschleiert, weil er sich nicht an die anderen richtete, an jene Alterität, die wir Schülerinnen in jedem Unterricht, sei es nun Tanz oder Verwaltungsrecht, im Gegensatz zur Lehrerin darstellen. Sie sagte »Wir ziehen uns die Socken aus« und nicht »Ihr zieht euch die Socken aus«, bezog sich damit selbst in diese Alterität ein und löste sie dadurch auf, schuf ein trügerisches »Wir«, in dem sich Lehrerin und Schülerinnen vermischen.
Sie wiederholte den verschleierten Befehl mit neuen Verschleierungen: Ich war die einzige Person mit Socken im Saal, und dennoch wiederholte sie statt »Du ziehst dir die Socken aus« im Plural »Wir ziehen uns die Socken aus«. Sie verschleierte also nicht nur den Imperativ und das Ihr, sondern jetzt auch die Tatsache, dass eine einzige Schülerin ihr nicht gehorcht hatte. Wären wir mehrere Personen mit Socken gewesen, hätte die Lehrerin verstanden, dass es irgendeinen Grund gab, der uns, auch wenn wir in der Minderheit waren, dazu brachte, uns anders zu verhalten, und sie hätte diesen Unterschied toleriert. Der Grund einer Minderheit für Ungehorsam kann Anerkennung finden. Der eines Individuums nicht. Alle schauten auf die nackten Füße der anderen. Ich bin kurzsichtig und muss zum Tanzen meine Brille absetzen, darum kann ich nicht mit absoluter Gewissheit sagen, dass sich alle Blicke auf meine bekleideten Füße richteten. Zum Glück sind die Schiebetüren geschliffen, 2,25 Dioptrien im linken Türblatt und 3,10 im rechten, allzeit bereit für die glasklare Beobachtung des Faschismus, gegen den sie mich abschirmen.
Nach den beiden nicht befolgten verschleierten Befehlen kam die schwedische Lehrerin Tina Johanes zu dem Schluss, dass ich nicht nur kurzsichtig, sondern auch taub sein müsse oder der spanischen Sprache nicht mächtig. Von diesem menschlichen Verständnis bewegt, drückte sie auf Play, und während die Schüler die vorgegebene Pirouette übten, kam sie zu mir, unterbrach meine tölpische Drehung und sprach mich, jetzt doch, in der korrekten grammatischen Person an.
»Geht es dir gut?«
»Mir?«
»Verstehst du Spanisch?«
»Ja, ja.«
»Nur weil du dir nicht die Socken ausgezogen hast.«
»Ich habe eine Wunde am Fuß.«
»Ah, okay, okay«, sagte sie, machte einen Schritt zurück und zeigte mir ihre Handflächen als Zeichen der Entschuldigung, der Konfliktvermeidung, des Nichtbesitzes von Waffen unter ihrem dehnbaren Gymnastikanzug.
Und schon Schluss mit lustig und Pirouetten. Und schon pausenloses Konstatieren des Ortes, an dem ich mich befinde, wer die anderen sind, wer Tina Johanes ist und wer ich bin. Zum Teufel mit dem Hirngespinst, dass ich tanzen lerne. Zum Teufel mit den vier Euro pro Stunde, die der Unterricht mit der Ermäßigung für Arbeitslose kostet. Vier Euro, die ich auch für die Hin- und Rückfahrt zum Probensaal der Universidad Autónoma hätte ausgeben können, wo ich allein tanze, nackt, schlecht, Mambo. Vier Euro, die ich auch auf der Terrasse eines Chinarestaurants für vier Bier hätte ausgeben können, vier Euro, die ein Fest beginnen lassen oder mich erschlagen aufs Bett werfen könnten, und kein Platz für Gedanken an den Tod. Ich bin in der Tagesförderstätte für Erwachsene La Barceloneta (TAFEBAR). Die anderen sind Wähler von Podemos oder der CUP. Tina Johanes ist eine Autoritätsperson. Ich bin Bastardistin , aber mit bovarystischer Vergangenheit, und wegen dieses beschissenen Erbes denke ich noch immer an den Tod, und darum bin ich schon im Voraus gestorben.
Kannst du nicht über die Schiebetüren der Bahnstation springen, um zur Autónoma zu fahren? Das ist gefährlich, die Fahrt ist lang, und ganze zwölf Stationen nach dem Kontrolleur Ausschau zu halten, vor dem man dann weglaufen muss, das zerrt an den Nerven, sie knüllen sich mir im Magen zusammen und ich muss kacken, und so bin ich zwölf Stationen lang damit beschäftigt, meine Magenkrämpfe zu veratmen. Ich lasse leise Fürze fahren, presse die Pobacken zusammen, damit sie lautlos sind, balanciere auf meinen Sitzhöckern, schäme mich wegen des Gestanks. Ein paar Mal bin ich schon mit vollgeschissenen Unterhosen an der Autónoma angekommen. Wenn du ein bisschen Kacke rausgelassen hast, hältst du es besser aus, aber dann sind es immer noch sechs Stationen mit Bremsspur am Arsch. Gibt es in der Bahn keine Toiletten? Nein, in den Nahverkehrszügen der Generalitat gibt es keine Toiletten. Man muss leergepinkelt, leergeschissen und durchgevögelt in den Zug steigen. In den Zügen, die von der Renfe und vom Innenministerium bereitgestellt werden, gibt es Toiletten. Zwischen Cádiz und Jerez, was genauso weit auseinanderliegt wie Barcelona und die Universidad Autónoma, kannst du vögeln. Halten wir also fest, dass das Fehlen von Toiletten in den Zügen ein weiteres Repressionsinstrument ist, und was Toiletten und Züge angeht, ist die Generalitat von Katalonien totalitärer als der spanische Staat.
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