»Dich besuchen«, nuschelte Henry im selben Moment und schob die Kapuze vom Kopf. Er sah aus, als hätte ihn eine Horde Hirnloser durch die Wälder gejagt; in seinen Haaren steckten Äste und Streifen voller Dreck zierten seine Wangen. Verwundert nahm Ethan zur Kenntnis, dass sogar seine Jeans zerrissen war. Außerdem wirkten seine Pupillen so groß wie Teller. Der Teufel wusste, was der Kerl schon wieder konsumiert hatte.
Inmitten des Bonzenviertels mit seinen gepflegten Gärten und weißen Zäunen wirkte Henry so deplatziert wie ein Sack Knochen in einem Schmuckladen.
Für einen Moment hatte Ethan das Bedürfnis, sich tatsächlich das Handy ans Ohr zu halten und ihn einfach stehen zu lassen. Er konnte auf Gesellschaft verzichten, wollte sich auf sein Zimmer verziehen und die Anstrengung der langen Reise abwaschen. Vielleicht ein bisschen an die heiße Blondine denken und wie sie hätte reagieren sollen, nachdem er ihr – zumindest großteils – den Arsch gerettet hatte. Eventuell würde er dann nicht immer noch an sie denken.
Seufzend schob er die Gedanken zur Seite.
»Magst keinen Besuch heute?« Henrys zögerliche Frage brachte ihn in die Gegenwart zurück.
Ihm lag das barsche »Nein!« bereits auf der Zunge, aber dann überlegte er es sich achselzuckend anders. Obwohl er keine Ahnung hatte, warum, bemühte Henry sich seit dem Internat, mit ihm befreundet zu sein. Ethan legte zwar keinen besonderen Wert darauf, aber Henrys Mutter, Lucy Johnson, war eine bekannte Lokalpolitikerin, die in letzter Zeit landesweit viele Schlagzeilen machte, und es konnte nie schaden, Kontakt zu einflussreichen Leuten zu haben. Auch wenn das bedeutete, sich mit einem professionellen Verlierer wie Henry abzugeben.
Entsetzt ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er damit nicht besser war als die Frauen, die sich ihm wegen seines reichen Vaters an den Hals warfen.
»Komm rein«, schnauzte er deswegen nur und warf das Gartentor hinter Henry ins Schloss, ehe er ihn die Steinfliesen zur Verandatür hinaufführte.
»Cool, danke, Mann.« Henry trottete brav hinter ihm her und es schien ihn nicht zu stören, dass Ethan sich lang und breit über den Abend ausließ. Immerhin musste man Henry zugestehen, dass er ein guter Zuhörer war.
Während Henry sich auf dem Barhocker vor der weitläufigen Theke niederließ, durchsuchte Ethan hungrig den Kühlschrank. Er hatte den ganzen Tag nichts in den Magen bekommen und spürte, wie sich seine schlechte Laune dadurch verschlimmerte. Außerdem bekam er Kopfschmerzen.
Schließlich mixte er sich einen Shake zusammen und bot seinem Besuch ebenfalls einen an.
Henry wiegelte ab, wobei er wild in der Luft gestikulierte. »Nee, Alter, ich leb doch jetzt vegan!«
»Stimmt ja.« Ethan verdrehte die Augen, musterte Henry anschließend zum ersten Mal an diesem Abend wirklich. »Bist du deshalb so dürr geworden? Du siehst krank aus.«
»Mir geht’s viel besser seitdem!«
»Ich bin nicht sicher, ob das wirklich gesund ist.« Verwundert bemerkte Ethan, dass er sich tatsächlich Sorgen machte. Henry wirkte bleicher als sonst und seine Wangen waren eingefallen. Sicherlich ein erstes Zeichen der Mangelernährung.
»Na klar ist es das«, protestierte Henry, doch seine Augen folgten Ethans Hand und dem Glas, das er darin hielt, gierig. Er schluckte, bevor er sich wieder dem Dreck unter seinen Fingernägeln widmete. »Ich hab mir Studien durchgelesen, das ist echt interessant, was der Körper alles an Gift mit sich rumschleppt! Vegan ist die Zukunft, ich sag’s dir, Mann!«
Auf einmal hatte Ethan wieder die engen Käfige vor Augen und die grausigen Zustände, die in den Fabriken herrschten. Unwillkürlich schauderte er, aber seine Worte waren hart. »So ein Schwachsinn! Hast du schon mal was von Evolution gehört, du Idiot? Was glaubst du, warum wir uns so entwickeln konnten?«
»Das heißt ja nicht, dass wir das für immer machen müssen.«
Ethan bereute es zutiefst, Henry mit ins Haus genommen zu haben. Nach dem ganzen Stress hätte er auf eine weitere fruchtlose Diskussion durchaus verzichten können. Er knallte das halb leere Glas auf den Tresen und es hätte ihn nicht gewundert, wenn es auf dem glatten Marmor zerschellt wäre.
»Boah, alles klar bei dir?«
»Nein, ist es nicht!« Im letzten Moment hielt Ethan sich vom Brüllen ab. Er fuhr sonst nicht so leicht aus der Haut, doch an diesem Tag reizte ihn einfach alles. Manchmal fürchtete er, sich in seinen Vater zu verwandeln.
Schließlich strich er sich müde mit der Hand durch die Haare. »Ich glaube, ich hab heute keine Lust auf Gesellschaft.«
»Okay, okay.« Henry hob abwehrend die Hände. »Ist ja gut, ich geh ja schon.«
Er sah ernsthaft enttäuscht aus, wie er da in seinen weiten Klamotten durch den langen Flur schlurfte, aber Ethan hielt ihn nicht auf. Er brauchte Ruhe, um endlich wieder zu sich zu finden.
Als Henry gegangen war, eilte Ethan zu seinem Fitnessraum. Er hatte sich damals gegen seinen Vater durchgesetzt und liebte dieses Zimmer, das komplett nach seinen Wünschen eingerichtet war. Hier konnte er sich auspowern und wenn der Schweiß in Strömen lief, ließen ihn auch seine Gedanken in Ruhe.
Während er die Hebel der Brustpresse zu sich zog, blitzte das Bild der jungen Frau wieder vor seinen Augen auf. Was sie wohl gesagt hätte, wenn er sie einfach an seinen Oberkörper gezogen hätte? Er stellte sich vor, wie er die Strähnen ihres hellen Haares, das in der Dunkelheit beinahe geleuchtet hatte, aus ihrem Gesicht strich und sie so hart küsste, dass all ihre schlauen Sprüche sie verließen und sie sich willenlos in seine Umarmung sinken ließ. Stattdessen hatte er sich ernsthaft auf ein Wortgefecht mit ihr eingelassen …
Verärgert begann er mit Klimmzügen und genoss, wie seine Muskeln unter der Anspannung zitterten. Wie Schweiß sein Gesicht hinunterlief. Wie der Geruch nach Stahl und Kraft seine Nasenflügel zum Beben brachte.
Den leichten Vanilleduft der Fremden konnte er jetzt fast nicht mehr riechen.
Fast.
4
Zum wiederholten Male spielte sie ihre Begegnung durch. Sie stieg einfach nicht dahinter – aus welchem Grund waren die Verseuchten vor ihm weggerannt? Wie hatte er das geschafft? Mit einer besonderen Waffe, die den Untoten Angst gemacht hatte? Nein, das hätte sie gesehen …
Irgendetwas stimmte an der Sache nicht, doch was es war, wollte sich ihr einfach nicht erschließen. Unzufrieden kaute sie auf ihrer Unterlippe und klappte den Laptop auf.
Sie würde sich ins Untergrundnetzwerk der Zombiejäger, kurz ZHU für ZombieHunterUnderground, einklinken. Aber vorher musste dringend Wärme in ihr Zimmer. Diese Station hier in San Francisco – ein einfaches Haus – war ziemlich abgewrackt. Es hatte nichts Besseres mehr zur Verfügung gestanden, aber immerhin hatten sie ein Dach über dem Kopf. Sie lebten zu sechst darin und besaßen jeder ein Zimmer, zusätzlich nutzten sie eine Küche und zwei Bäder zusammen. Sollte es hart auf hart kommen, gab es einen Panicroom im Keller, der seit einigen Jahren in allen Behausungen Vorschrift war.
Das war alles schön und gut, wenn man davon absah, dass dieses Haus dringend eine Renovierung nötig hatte. Überall blätterte Tapete von den Wänden und der Schimmel im Bad ließ sich nur mit Mühe in Schach halten.
Das Wohnzimmer hingegen hatten sie beinahe gemütlich eingerichtet. Dort hing auch eine große Karte von San Francisco, in die sie regelmäßig Pinnwandnadeln hineinsteckten, wenn sie Zombies entdeckt hatten. Möglicherweise würde sich so ein Nest auftun oder es könnten sich andere wichtige Dinge herauskristallisieren.
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