Hi, wie geht es dir, Alex? Läuft alles gut?
Ja, Mom, ich kann mich nicht beschweren. Wie geht es dir? (Kein Wort über Hamilton)
Mir geht es auch gut.
Lange Stille…
Okay, wir hören voneinander.
Das Geräusch eines Telefonhörers, der aufgelegt wird.
Als Alex nach London gezogen war, hatte er die letzten Reste seines Vaters mitgenommen und Judith war in ihrem Trott geblieben. Morgens aufstehen, Kaffee kochen, kurz nachsehen, ob Hamilton noch lebte oder ob er mal wieder in einer Ausnüchterungszelle saß. Zur Arbeit fahren, den Leuten minderwertiges Essen servieren, am Abend heimkommen und nach Fritteuse stinken. Alex war sich sicher, inzwischen musste ihr Haus wie eine Müllhalde aussehen und sie und Hamilton waren die Waschbären, die darin hausten. Er begann mehr und mehr, seine Wurzeln zu vergessen. Jetzt saß er hier, auf seinem Klappbett, hatte die Beine zu einem Schneidersitz geformt und ein Buch auf seinem Schoß aufgefaltet. Seine Finger berührten den Anhänger, der an einer vergoldeten Kette um seinen Hals hing. Es war ein rechteckig geschliffenes Medaillon, mit einem Verschluss an der Seite. Bizarrerweise ließ er sich nicht mehr öffnen, das Schmuckstück war so gut verschlossen, als hätte es jemand von innen heraus zugeschweißt. Es war ein Erbstück seines Großvaters und seit vielen Jahrhunderten im Besitz der Familie Lane, war immer an den nächsten weitergegeben worden. Als ältestem Nachkommen hatte Adam Lane, Alex Großvater, den Anhänger zunächst Paul gegeben und der hatte ihn Alex vermacht, mit den Worten, das Schmuckstück würde ein großes Geheimnis enthalten. Als die Rechnungen sich wieder gestapelt hatten, spielte Judith mit dem Gedanken, das schmucke Teil zu versetzen, immerhin sah es wertvoll aus. Aber sie konnte es nicht und schämte sich zutiefst, überhaupt daran gedacht zu haben.
Du blöde Kuh weißt doch, was er deinem Sohn bedeutet, was er deinem Mann bedeutet hat.
Alex hatte sie weinend am Küchentisch gefunden und ihr von seinem Ersparten gegeben, damit sie zumindest die Rechnungen bezahlen konnte, bei denen sie bereits die zweite Mahnung erhalten hatte. Dafür hatte er von Hamilton aufs Maul bekommen.
Du Arschloch lässt mich dastehen, als wäre ich der schlimme Bruder.
Du Penner, das bist du ja auch , hatte Alex sich gedacht, es aber nicht laut ausgesprochen.
Der junge Mann ließ von dem Medaillon ab. Er richtete seine graublauen Augen auf die nächste Seite in seinem Buch, welches ihm die großen Geheimnisse der Kunsthistorie offenbarte und ihn vergangenes Semester ein kleines Vermögen gekostet hatte. Eine Strähne seines weizenblonden Haares fiel ihm ins Gesicht und er streifte sie mit zwei Fingern beiseite. Ihm war langweilig, seine Augen wurden vom Lesen immer schwerer und er hatte erst die Hälfte durch. Was sollte er als Nächstes tun? Ihm war nicht danach, sich auf einem der zahlreichen Streamingdienste auf seinem Computer einen Film oder einen kostenlosen Porno anzusehen und dazu zu onanieren. Er blickte durch das Fenster, es war bereits Nacht. Diese scheiß Mauer, dachte er bei sich, stand vom Bett auf, schnappte sich seine Schlüssel aus dem Kästchen neben der Tür und ging hinaus. Auf dem Flur sah er Terry aus dem Gemeinschaftsbadezimmer kommen. Er hatte nur ein Handtuch um seinen Lendenbereich gewickelt, der Rest von ihm war nackt. Feine Wasserperlen glitzerten im Schein der Neonröhren auf Terrys stählernem Körper.
„Hi Alter“, grüßte er Alex kurz, schloss die Tür zum Badezimmer, die mit dem vielen Dampf wie das Innenleben einer Wahrsagerkugel aussah. Alex grüßte ihn zurück. Terry war ebenfalls Student, aber aus einer anderen Fachrichtung. Der Junge mit den rotblonden, lockigen Haaren, dessen Körper wie der von Channing Tatum zu Bestzeiten aussah, war ein Weiberheld. Die Studentinnen gingen bei ihm ein und aus wie räudige Katzen. Alex dachte sich oft, bis Terry mit seinem Studium fertig wäre, hätte er sie alle flachgelegt. Die Hübschen, die Hässlichen, die Schlanken, die Korpulenten, ja sogar die Professorinnen. Das Studium selbst war für den Rotschopf nur Nebensache. Alex lief das Treppenhaus hinab, gefolgt von dem sterilen Licht der Neonröhren an den Decken, die ihm immer das Gefühl gaben, in einen dieser Underground Horrorfilme geraten zu sein. Er musste raus aus dem Wohnheim, wollte rein in das nächtliche London, auch wenn dieses nicht mehr dasselbe war, seitdem die Menschheit sich fast selbst ausgelöscht hatte. Ihm ging es um die Kunst und Kulturstätten, etwas, das nie aussterben würde, dachte er bei sich. An diesen Orten fand er noch jedes Mal Frieden und Ruhe. Alex entschied sich für einen Abstecher in den Hyde Park, der inzwischen vor Kunst aus allen Nähten platze und sein Herz einen Gang beschleunigen ließ. Er lief die Straße hinab, wollte die U-Bahn nehmen, da es zu Fuß zu weit war. Er tastete nach seinem Geldbeutel in seiner Jackentasche, um zu kontrollieren, ob er sein Studententicket für die U-Bahn auch dabei hatte, als ein Regen aus Asche einsetzte. Kleine graue Flocke landete auf seiner Hand. Im Sekundentakt kamen sie jetzt vom Himmelszelt herab und legten sich wie ein Mantel aus Staubmäusen auf seine Kleidung und sein Haar. Ein Wetterleuchten gesellte sich hinzu und ein tiefes Grollen wie das eines hungrigen Wolfes verriet Alex, dass er sich mitten in einem herannahenden Gewitter befand. Zum nächsten U-Bahn Schacht war es noch zu weit, zum Hyde Park auch. Als er nach rechts blickte, gab das gabelförmige Zucken eines Blitzes die Sicht frei auf ein kuppelförmiges Dach, das ihn zugleich an die hügelförmigen Wackelpuddings erinnerte, die seine Großmutter für ihn und Hamilton immerzu gekocht hatte. Der Schrei des Donners fuhr ihm in die Knochen und er warf seinen ursprünglichen Plan über Bord. Heute Nacht gäbe es für ihn keinen Spaziergang durch den Hyde Park. Ersatzweise wollte er sich mit der Innenarchitektur der St. Paul’s Cathedral etwas mehr vertraut machen. Er lief auf den Westeingang zu und in dem sterbenden Grollen des Donners war ihm, als höre er in der Luft das Rauschen von Flügelschlägen.
Diese verdammte eigensinnige Göre , raste es mit wütender Kraft durch Ashs Gedanken. Warum musste er für Freyas Sünden büßen? Nur weil er der Jüngste von drei Kindern war? Und warum zum Teufel konnte Freya sich nicht fügen? Vielmehr noch, warum konnte Vater sie nicht endlich in Ruhe lassen und akzeptieren, dass sie Westminster nicht mochte? Das alles rauschte durch seinen Kopf wie ein Formel 1 Pilot über die Rennstrecke. Die St. Paul’s Cathedral gehörte zu ihren Schlupflöchern, zu ihren sicheren Unterkünften. Unterhalb dieser Mauern war sie sicher. Freya war kein kleines Kind mehr, sie konnte gut auf sich selbst aufpassen. Ash hatte ihr sogar ein paar Tricks im Kampf gezeigt, natürlich nur für den Notfall und der war bisher noch nie eingetreten. Wenn sie also innerhalb der Sicherheitszone blieb, konnte ihr nichts passieren. Anders als bei ihm. Er hatte Westminster auf Befehl seines Vaters verlassen müssen und befand sich außerhalb der Schutzlinie. Der Weg zwischen St. Paul und Westminster war nicht allzu weit, für ein geflügeltes Wesen nur ein Katzensprung. Trotzdem konnte er dem Feind begegnen. Er wusste nicht, ob die Pearce Wächter ausgesandt hatten oder nicht. Niemand wusste das, es war ein Katz und Maus Spiel. Es ging darum, den Feind zu dezimieren und das gegnerische Terrain zu fordern. Wo und wann Vergeltungsschläge eintrafen, konnte keiner der Klans voraussehen. Zwar hatten die Grimm und die Pearce unterhalb vieler berühmter Denkmäler ihr unterirdisches Reich erschaffen, aber den Weg von einem Stützpunkt zum Nächsten mussten sie über Tage zurücklegen. Ihre einzelnen Posten waren über Funksysteme, Satelliten und zahlreichen Monitoren miteinander verbunden. Überwachungskameras an den wichtigsten Stellen halfen den Klans dabei, den Feind im richtigen Moment kommen zu sehen. Leider gelang ihnen das nicht immer. Es gab Momente, da waren die Schwachstellen der Techniken vom Gegner ausgenutzt worden. So wie damals, in der einen Nacht, an der Seven Sisters Underground Station, als …
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